Emotionaler Mißbrauch bei Scheidungskindern
Von Christine Brinck
Familientreffen vor dem Richter: Catherine Laylle, die in London lebende Mutter, sah ihre Kinder zum ersten Mal nach Wochen der Trennung im Gerichtssaal von Verden wieder. Der deutsche Vater hatte die sieben und neun Jahre alten Söhne Alexander und Constantin entführt. Frau Laylle stürzte auf die beiden zu, um sie in die Arme zu schließen. Doch der ältere stieß sie von sich - mit seiner Mutter wollte er nichts mehr zu tun haben.
Bis zu den Sommerferien des Jahres 1994, als die Entführung das Band zwischen ihr und den Kindern zerriß, war Catherine Laylle die geliebte Mutter gewesen. Doch nachdem die beiden Kinder für ein paar Monate ausschließlich mit dem Vater zusammengewesen waren, wollten sie von ihr nichts mehr wissen. Schlimmer noch: Die Richter deuteten das Votum der Kinder als Zeugnis ihrer wahren Gefühle. An die Gründe für den Riß zwischen Mutter und Kindern verschwendeten sie keinen Gedanken, sondern entschieden vielmehr im Sinne des Vaters, die Kinder sollten nunmehr bei ihm in Deutschland bleiben.
Daß ein Kind einen Elternteil vehement ablehnt, offensichtlich grundlos, das ist indes mitnichten normal. Die Psychologie hat für das Verhalten von Kindern, die sich dem einen Elternteil kalt verweigern und den anderen hochjubeln, längst einen Begriff gefunden: Parental Alienation Syndrome (PAS). Erstmals beschrieben wurde es 1984 von Richard A. Gardner, einem Psychiater an der Columbia-Universität. 1992 erschien sein Buch Parental Alienation Syndrome, das er ausdrücklich als Handreichung für Richter und Sozialarbeiter verstanden wissen wollte, die mit Scheidungskindern zu tun haben.
Die Ausgrenzung des einen Elternteils - meistens des Vaters - ist häufig angewandte elterliche Praxis vor, während und nach Sorgerechtsstreitigkeiten. PAS bedeutet die kompromißlose Zuwendung eines Kindes zum "guten" und geliebten Elternteil und die ebenso kompromißlose Abwendung vom anderen, dem "bösen" und gehaßten - ebenjenem, mit dem das Kind nicht mehr zusammenlebt, der nur Umgangsrecht hat oder darum kämpft.
Die amerikanischen Autoren Stanley S. Clawar und Brynne V. Rivlin beschreiben diesen Vorgang mit Begriffen wie "Programmierung" und "Gehirnwäsche". Hierzulande hat die Freiburger Psychologin Ursula O. Kodjoe das Thema PAS in der Fachzeitschrift Amtsvormund aufgegriffen. Am Rande einer Tagung über Psychologie im Kindschaftsrecht in der Akademie Bad Boll berichtete sie erstaunt von der Geschwindigkeit, mit der Programmierung funktioniert. So grüßten die sieben, neun und zwölf Jahre alten Kinder eines Juristen am Kaiserstuhl nur drei Wochen nach der Trennung der Eltern die in derselben Straße lebende Mutter nicht mehr. Noch absurder ist der Fall der fünfjährigen Alina, Tochter eines badischen Arztehepaars, die ihren Vater nur gemäß der Besuchsregelung des Gerichtes, nämlich samstags von 14 Uhr bis 16 Uhr und sonntags von 10 Uhr bis 16 Uhr, besuchen, aber nicht bei ihm übernachten durfte - obgleich beide Parteien im selben Haus wohnten.
Die Väter und Mütter, die ihre Kinder in dieser Weise programmieren, sind im übrigen ganz normale Eltern, die ihre Kinder lieben und von ihnen geliebt werden wollen. Sie sind nicht zu verwechseln mit sexuell mißbrauchenden Eltern.
Als Begriff ist PAS in Deutschland noch nicht geläufig, doch kommen Scheidungsopfern die damit beschriebenen Gefühle bisweilen schmerzlich vertraut vor. Ursula Kodjoe berichtet vom Anruf einer Psychoanalytikerin, die ihren Sohn jahrelang nicht gesehen hatte und nach der Lektüre des Aufsatzes erklärte: "Jetzt weiß ich, worunter ich seit acht Jahren leide."
Psychologen, Sozialarbeiter und Juristen, die sich professionell mit Scheidungsfällen befassen, kennen das Szenario gut: Nach der Trennung funktioniert der Kontakt auch mit dem ausgezogenen Elternteil einigermaßen. Doch bald setzen die Verweigerungsrituale ein: Taucht "der andere" auf, ist das Kind krank oder gerade auf einem Kindergeburtstag. Dann beginnt die Buhl-und-Ausstech-Strategie: ihr Kindertheater gegen sein Kino, die Go-kart-Bahn gegen McDonald's.
Die anerzogene Ablehnung wird oft als glaubhafte Willensäußerung gedeutet
Der dritte Schritt ist der Entzug durch Wegzug, womöglich gleich ins Ausland. Zunächst sieht man einander nicht mehr regelmäßig, später werden auch Telefonate und Briefe seltener. Geburtstags- oder Weihnachtspäckchen werden an den Absender zurückgeschickt, Telefonnummern verändert oder geheimgehalten. Der ausgegrenzte Elternteil bekommt keine Fotos seiner Kinder mehr; die Kinder dürfen auch keine Fotos von ihm haben, taucht doch eines auf, wird es vernichtet.
Die Begründung der Kontaktverweigerung lautet stets: "Das Kind will dich nicht sehen/sprechen." Oder: "Die Kinder haben Angst vor dir." So gesellt sich zu dem vertrauten Argument: "Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen" das neuere "Das Kind will es so". Niederschmetternd für den ausgegrenzten Elternteil: Richter, aber auch Gutachter und Sozialarbeiter interpretieren die vehemente Abweisung gern als glaubwürdige Willensäußerung des Kindes, obwohl sie eher als Ergebnis einer Programmierung zu erklären ist.
Was geht in einem Kind vor, das seinem Vater oder seiner Mutter die Loyalität aufkündigt? Ursula Kodjoe schreibt: "Nach der Erfahrung der Trennung und dem Auszug eines Elternteils ist das Kind beherrscht von der Angst, auch den anderen zu verlieren. Kinder erleben das in etwa so: ,Die Mutter hat den Vater weggeschickt - wird sie mich auch wegschicken?' oder ,Der Vater ist gegangen, wird die Mutter eines Tages auch gehen?' Das Kind schlägt sich aus Sicherheitsbedürfnis und Abhängigkeit auf die Seite dessen, mit dem es lebt."
Je jünger das Kind, desto eher ergreift es die Partei des nahen Elternteils und wird dadurch "zumindest vorübergehend und oberflächlich aus der Unerträglichkeit des Loyalitätskonfliktes befreit". PAS-Kinder erleben einen Verlust, der dem Tod eines Elternteils gleicht; sie erleben den Verlust von Großeltern, Verwandten und Freunden und können noch nicht einmal trauern. PAS, summiert die Gardner-Schülerin Gisèle E. Kehl, "ist emotionaler Kindsmißbrauch".
Gardner selbst, der Entdecker des Entfremdungssyndroms, schätzt, daß PAS in 90 Prozent aller Sorgerechtsfälle auftritt. Es wäre demnach Aufgabe der Familiengerichte und Jugendämter, diese Form des elterlichen Kindsmißbrauchs gar nicht erst zuzulassen. Freilich müssen beide Institutionen erst einmal wissen, daß es PAS gibt und welchen Schaden es anrichten kann. Leider ist die Beschäftigung mit Psychologie für Familienrichter eine zwar naheliegende, aber nur selten vollzogene Übung. So verbreiten sich Ansichten der Art, Väter, die um das Sorgerecht für ihre Kinder kämpfen, wollten lediglich "Frauen mit Gefühl um Geld" bringen, wie die Feministin Sabine Heinke wähnt, bis vor kurzem wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverfassungsgericht und bald wieder Familienrichterin in Bremen.
Daß Kinder mit Vater und Mutter besser gedeihen als mit nur einem Elternteil, kann mittlerweile als wissenschaftlich belegt gelten. Sozialarbeiter, Gutachter oder Richter, die ein Auge zudrücken, wenn gegen die Umgangsrechte verstoßen wird, legalisieren das Entfremdungssyndrom geradezu. In den USA, in Kanada und in Tschechien ist PAS längst ein justitiabler Tatbestand. Auch hierzulande haben Gerichte Entscheidungen zum Umgangsboykott gefällt, die das Feindbildproblem auch ohne PAS-Kenntnis richtig einschätzten. Mittlerweile gibt es einige wenige Urteile, die ausdrücklich den sorgeberechtigten, der Entfremdung Vorschub leistenden Elternteil ins Visier nehmen.
So wurde im vergangenen Jahr eine Mutter in Rinteln nicht nur verpflichtet, die umgangsrechtlichen Auflagen zu befolgen; man werde ihr überdies das Sorgerecht entziehen, falls sie mit neuen Vereitelungsritualen den Vater wiederum ausschlösse. Beide Eltern wurden dazu verdonnert, "sich jeder Beeinflussung des Kindes gegen den anderen Elternteil zu enthalten".
"Die Ablehnung des Vaters oder der Mutter ohne triftigen Grund ist den Bedürfnissen eines jeden Kindes diametral entgegengesetzt", stellt Ursula Kodjoe fest. "Kinder - auch Kinder mit PAS - lieben beide Eltern und wollen beide Eltern lieben dürfen."
DIE ZEIT 1999 Nr. 12