Aus: PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000, Seite 40-42

Julia Weidenbach
"Dein Papa ist ganz böse"

In vielen Scheidungsfamilien bringt ein Elternteil die Kinder gegen den anderen auf. Die negative Beeinflussung nimmt oft schon den Charakter einer "Gehirnwäsche" an: Manche Kinder verweigern schließlich jeglichen Kontakt zum "bösen" Elternteil. Psychologen warnen vor den schwer wiegenden psychischen Folgen des "Syndroms der Elternentfremdung"

Claudias Eltern sind geschieden. Die Achtjährige lebt bei ihrer Mutter. Obwohl beide Eltern das Sorgerecht haben, bekommt der Vater seine Tochter so gut wie gar nicht mehr zusehen. Die ersten Monate nach der Scheidung war zunächst alles gut gelaufen, Claudia kam ihn regelmäßig besuchen und kehrte fröhlich von den gemeinsamen Wochenenden zurück. Doch dann fielen ihre Besuche immer häufiger aus: Mal war sie krank, mal auf einer Sportveranstaltung, mal bei einem Kindergeburtstag. Schließlich erfährt der Vater, dass Claudia sich weigert, ihn besuchen zu kommen.

Eine Geschichte, wie viele geschiedene Eltern sie erleben. Zwanzig Prozent aller Ehen werden heute geschieden, und damit wächst auch die Zahl der Mütter und Väter, die ihr Kind nach der Trennung vom Partner kaum mehr zu sehen bekommen. Häufiger Grund: Das Kind will nur noch mit dem Elternteil zu tun haben, bei dem es lebt. In neun von zehn Fällen ist dies die Mutter Viele Väter reagieren mit Fassungslosigkeit und Verzweiflung auf die Kontaktverweigerung und wollen nicht akzeptieren, dass sie am Leben ihrer Kinder nicht mehr teilhaben sollen.

Warum weigern sich viele Scheidungskinder, den Vater oder die Mutter weiterhin zu sehen? In den USA beschäftigen sich Psychologen seit einiger Zeit mit diesem Phänomen. Ihre Untersuchungen haben zu Ergebnissen geführt, die betroffene Eltern Hoffnung schöpfen lassen.

Die Störung hat inzwischen auch einen Namen: Parental Alienation Syndrome (PAS) - Syndrom der Elternentfremdung. Sie wird definiert als die rigorose Abkehr eines Kindes von einem Elternteil bei gleichzeitiger Zuwendung zu dem Elternteil, bei dem es lebt. Kinder, so die Grundannahme, lieben und brauchen grundsätzlich beide Eltern. Das Syndrom der Elternentfremdung entwickeln sie unter Einfluss des ständig betreuenden Elternteils: Er bringt bewusst oder unbewusst das Kind gegen den ehemaligen Partner auf. Der Prozess verselbständigt sich, weil das Kind nun beginnt, eigene Geschichten und Erfahrungen zu erfinden, die den abwesenden Elternteil in ein schlechtes Licht stellen. Weitere situative Umstände kommen bei der Entwicklung von Elternentfremdung meist hinzu, wie beispielsweise große räumliche Entfernungen zwischen den Familienmitgliedern.

Der Begriff Parental Alienation Syndrome wurde 1984 von Richard A. Gardner geprägt, der klinischer Professor für Kinderpsychiatrie an der Columbia University ist. Mittlerweile hat die psychologische Forschung bereits Einfluss auf die amerikanische und kanadische Rechtsprechung, da PAS in Gutachten und Urteilsbegründungen Erwähnung findet. Zunehmend sieht die amerikanische Justiz hinter dem scheinbar eindeutigen Willen eines Kindes den Einfluss eines Elternteils, der es manipuliert und gegen den Expartner aufbringt.

Was geht in Erwachsenen vor, die ihre Kinder derart beeinflussen? Die sie "programmieren" und einer "Gehirnwäsche" unterziehen, wie es in der amerikanischen Fachliteratur sogar heißt? Diese Eltern befürchten, nach der Trennung vom Partner auch noch das Kind zu verlieren. Sie haben das Gefühl, sich mit dem Kind gegen den Rest der Welt verbünden zu müssen. Ihre Beziehung zum Kind ist von einer krankhaften Angst geprägt, die andere Bezugspersonen ausschließt.

Programmierende Eltern empfinden häufig Rachegefühle und Wut gegenüber dem Expartner. Der Entzug des Kindes ist die Vergeltung für das,

40  PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000

was er ihnen angetan hat. Projektion spielt dabei eine wichtige Rolle: Die eigene Schuld am Scheitern der Beziehung gestehen sie sich nicht ein, sondern machen allein den anderen verantwortlich. Das Kind wird zum Komplizen der Projektion, indem es ebenfalls nur einen beschuldigt, die Familie zerstört zu haben.

Die meisten programmierenden Eltern sind sich nicht bewusst, dass sie ihr Kind gegen den ehemaligen Partner aufwiegeln. Sie rationalisieren ihr Verhalten und sind der Überzeugung, sich lediglich für das Wohl des Kindes einzusetzen. So werden Besuche des Kindes beispielsweise mit dem Argument abgesagt, es müsse sich erst an die neue Familiensituation gewöhnen und dürfe nicht überfordert werden. Lebt das Kind in einer Stieffamilie, so wird der leibliche Elternteil als Eindringling empfunden, der die neue Ordnung stört. Der oder die Ex ist schuld an Problemen des Kindes wie Schwierigkeiten in der Schule oder psychosomatischen Beschwerden. Insbesondere wenn Feste und Familienzusammenkünfte anstehen, versuchen diese Eltern, auf ihr Kind einzuwirken.

Wie in Claudias Fall ist es meist das Kind selbst, das den völligen Kontaktabbruch fordert. Die Eltern ahnen in der Regel nicht, dass hinter dieser Haltung ein langer Prozess steht, der das Kind extrem belastet und auch langfristig schwerwiegende Auswirkungen auf seine Psyche haben kann.

Kinder, die die Trennung ihrer Eltern erlebt haben, befürchten vor allem, ebenfalls verlassen zu werden. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit treibt sie dazu, sich mit dem Elternteil zu identifizieren, bei dem sie leben: Ihn wollen sie auf keinen Fall verlieren.

Insbesondere kleine Kinder sind so leicht zu beeinflussen. Verunglimpfungen und Hetzkampagnen über den Vater oder die Mutter wirken sich negativ auf ihre Fähigkeit aus, die Realität zu überprüfen. Denn erst im Alter von zehn Jahren können Kinder zuverlässig unterscheiden zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Phantasien und

Krankhafte Angst, das Kind auch noch zu verlieren

Geschichten, die ihnen jemand erzählt hat. Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wird untergraben, wenn diese Geschichten nicht in Einklang zu bringen sind mit den eigenen Erfahrungen. Die Angst, den betreuenden Elternteil zu verärgern und sogar zu verlieren, lässt die betroffenen Kinder die eigene Wahrnehmung verdrängen. Die Behauptung der Mutter: "Papa saß abends immer nur vorm Fernseher und hat sich nie um dich gekümmert", schiebt sich vor die Erinnerungen an Spiele mit dem Vater nach dessen Feierabend. Mit den Erinnerungen spaltet das Kind auch einen Teil seines eigenen Selbst ab, seine Identitätsfindung wird gestört.

PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000  41

Die Ablehnung des abwesenden Elternteils bringt zunächst scheinbar positive Aspekte für das Kind mit sich: Spannungen und negative Gefühle, die sich oft über Jahre hinweg durch die Auseinandersetzungen der Eltern angestaut haben, können endlich kanalisiert werden. Loyalitätskonflikte werden oberflächlich gelöst, indem das Kind für einen der beiden Eltern Partei ergreift. Tatsächlich verdrängt es aber einen tiefen Trennungsschmerz gegenüber dem abgelehnten Elternteil.

Ob ein Kind indoktriniert ist oder tatsächlich Gründe vorliegen, aufgrund derer es den abwesenden Vater, die weggezogene Mutter von sich weist, ist oft schwer zu entscheiden. Insbesondere Familienrichter, die über Sorge- und Umgangsrecht zu entscheiden haben, sind mit diesem Problem konfrontiert. Sie bewegen sich in einer Grauzone, in der schwer auszumachen ist, ob das Syndrom der Elternentfremdung vorliegt. Dennoch gibt es einige Anzeichen im Verhalten von Scheidungskindern, die darauf hindeuten, dass sie beeinflusst werden.

1. Zurückweisungskampagne

Die Kinder weisen jegliche positive Erinnerung an den abwesenden Elternteil von sich. Alles, was mit ihm zusammenhängt, wird negativ beschrieben. Fordert man das Kind auf, konkrete Erlebnisse zu schildern, die zu dieser Meinung geführt haben, so verschanzt es sich hinter allgemeinen Aussagen wie: "Der Papa ist gemein. Ich will ihn nie wieder sehen." Auch absurde Rechtfertigungen weisen auf das PAS hin. Die Kinder führen oft triviale Ereignisse an, um ihre Ablehnung zu begründen: "Die Mama spricht immer so laut." Fürsorgliches und liebevolles Verhalten wird negativ umgedeutet. So wird beispielsweise eine schulpsychologische Untersuchung wegen Legasthenie ausgelegt als: "Der Papa hat ein Attest geschrieben, dass wir geistig behindert sind."

2. Keine Ambivalenz

Entfremdete Kinder sind nicht imstande, positive und negative Eigenschaften beider Eltern zu benennen. Für sie ist der eine nur gut, der andere nur schlecht. Hakt man nach, so zählen sie Pauschalurteile auf, die wie auswendig gelernt wirken.

3. Reflexartige Parteinahme

Egal was vorgefallen ist und worüber gerade diskutiert wird, das Kind vertritt immer die Position des programmierenden Elternteils. Einwände von Außenstehenden nimmt es nicht an: "Ich weiß gerade nicht mehr, was da war. Aber der Papa lügt."

4. Geborgte Szenarien

Die Szenen, die PAS-Kinder beschreiben, wie auch die Sprache, die sie dabei benutzen, lässt den Einfluss des Erwachsenen erkennen. Auch dies wird durch Nachfragen deutlich: Das Kind kann nicht erklären, wie die Mutter es "besticht", wann sie es "belästigt" hat, wie sie es "vernachlässigt".

5. Ablehnung gegenüber Verwandten

Die betroffenen Kinder lehnen nicht nur den einen Elternteil ab, sondern auch dessen Verwandte und Freunde. Auch sie sind "böse", selbst wenn das Kind zu ihnen früher eine intensive Beziehung hatte.

6. Keine Schuldgefühle

Die Kinder empfinden keinerlei Schuld gegenüber dem Elternteil, den sie von sich weisen. Im Gegenteil stellen sie oft gleichzeitig Forderungen: Sie verlangen finanzielle Unterstützung und Geschenke, ohne dabei Dankbarkeit zu zeigen.

7. Das Phänomen der "eigenen Meinung"

Typisch für die betroffenen Kinder ist, dass sie ständig betonen, ihre eigene Meinung zu vertreten. Schon Drei- und Vierjährige behaupten das. Die beeinflussenden Eltern unterstützen sie dabei, wenn sie beispielsweise vor Außenstehenden das Kind auffordern, seine Position zu vertreten. Die Eltern sind meist wirklich überzeugt und stolz darauf, dass das Kind seine eigene Meinung vertritt. Unbewusst senden sie ihm jedoch Signale, wie es sich zu verhalten hat. In diesem Zusammenhang sprechen Psychologen von double-bind messages. Die Aufforderung lautet: "Dieses Wochenende verbringst du mit deinem Vater" aber Mimik, Gestik und Körperhaltung signalisieren: "Wenn du mich lieb hast, bleibst du hier."

Insbesondere das Phänomen der eigenen Meinung macht es für Richter und Sachverständige schwer zu entscheiden, ob sie es mit einem Fall von Elternentfremdung zu tun haben. Dennoch zeichnet sich in vielen US-Staaten die Tendenz ab, das Syndrom in der Rechtsprechung stärker zu berücksichtigen. Psychologen fordern, dass auch die Justiz in Deutschland sich mit dem Syndrom der Elternentfremdung auseinander setzen sollte. Sie befürchten, dass durch die Kindschaftsrechtsreform die Anzahl der betroffenen Kinder zunehmen wird. Denn nach der neuen Gesetzgebung haben beide Eltern die Pflicht und auch das Recht auf Umgang mit den Kindern. Das gemeinsame Sorgerecht ist der Normalfall, das Alleinsorgerecht muss beantragt werden. Möglicherweise werden deshalb Eltern, um die alleinige Sorge zu bekommen, verstärkt ihre Kinder beeinflussen.

Literatur

Wilfried von Boch-Galhau: Das Parental Alternation Syndrome, das Wohl und die Interessenvertretung des Kindes. Vortrag

Ursula Ofuatey-Kodjoe, Peter Koeppel: The Parental Alienation Syndrome (PAS). in: Der Amtsvormund, Sonderdruck 1/1998

42 PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000