In 783 Tagen einmal
Väter und eine Mutter aus „binationalen Ehen“ beginnen in Berlin einen Hungerstreik, um ihre Kinder wiederzusehen
Von Bernd Fritz

BERLIN, 12. Juli.2001   Im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt stellt seit sieben Wochen eine Ausstellung des Deutschen Bundestags „Fragen an die deutsche Geschichte“. Draußen, auf der Domtreppe, stellen seit diesem Mittwoch Franzosen und Deutsche Fragen an die deutschen Gerichte und den Bundestag. Es sind Väter aus sogenannten „binationalen“ Ehen, die nach deren Scheitern das Sorgerecht für ihre Kinder verloren haben und den Umgang mit ihnen entbehren müssen. Sie halten Bilder ihrer Kinder hoch und ein Blatt Papier mit zwei Zahlen: die obere für die Besuche, die untere für den Zeitraum. Der Initiator des Protests, der Franzose Olivier Karrer, hat seinen Sohn in 783 Tagen einmal gesehen. Er fragt, warum ein deutsches Gericht ihm den Sohn genommen hat, ohne ihn, den Vater, auch nur anzuhören. Er fragt den Bundestagspräsidenten, wieso das deutsche Grundgesetz einen Artikel enthält, der die Mütter privilegiert. „Jede Mutter“, so Artikel 6, Absatz 4, „hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Karrer, der auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, vermißt das gleiche Privileg für die Väter und sieht in diesem Passus sowohl eine Menschenrechtsverletzung als auch den Grund der für ihn unfaßbaren Geschehnisse im Juli vor drei Jahren.

In jenem Sommer entnahm Olivier Karrer einem Brief, daß ihn seine deutsche Frau nach zehn Jahren Ehe verlassen hatte. Das Paar hatte sich in Hamburg, wo Karrer studierte, kennengelernt und war bald nach der Heirat nach Frankreich gezogen. Ein Haus wurde gemeinsam erworben, 1994 kam das „Wunschkind“ (Karrer) zur Welt. Um keine Nation zu bevorzugen, wurde ein englischer Vorname gewählt: Julian, nach dem Sohn John Lennons. Das Kind wuchs zweisprachig auf, ging in Frankreich zur Vorschule und verbrachte mit seiner Mutter regelmäßig mehrere Wochen bei der Großmutter in Hamburg. Die Ehe war unterdessen in eine Krise geraten, die Ehefrau entschloß sich bei einem weiteren Besuch in Hamburg zur Trennung. Der Brief, den der Gatte daraufhin erhielt, war indessen nicht ein schweren Herzens geschriebener Abschiedsbrief, sondern eine „Wahrungsanzeige“ des Sozialamts Hamburg, in der ihm auf Deutsch mitgeteilt wurde, daß er ab 1. 7. 1998 gegenüber seiner Frau und seinem Sohn zum Unterhalt verpflichtet sei. Es folgt ein Schreiben des Jugendamts, wonach er Unterhaltszahlungen an die in Vorauskasse getretene Behörde zu entrichten habe. Begründung: „Ihr Kind hat einen Unterhaltsanspruch gegen Sie.“

Olivier Karrer ist außer sich. Er ist nicht nur menschlich getroffen, sondern auch in seinem Nationalgefühl und in seinem Rechtsempfinden. Seine Frau entzieht ihm das Kind, und eine deutsche Behörde bittet ihn zur Kasse. Nach französischer Rechtspraxis geht bei derartigen behördlichen Festsetzungen stets ein richterlicher Beschluß voraus. Karrer nimmt die Internationale Rechtsverkehrshilfe in Anspruch und fordert das Jugendamt auf, die Vorauszahlungen einzustellen. Er fährt nach Hamburg und stellt seine Frau zur Rede. Sie sagt zu, das Kind alsbald zu ihm reisen zu lassen. Als Julian nicht bei seinem Vater eintrifft, beschließt dieser, ihn zu holen. Der Weg, beim deutschen Generalbundesanwalt einen Antrag auf Rückführung nach dem Haager Übereinkommen über Kindesentführung zu stellen, scheidet für Karrer aus. Aus der Tatsache, daß deutsche Behörden die Kindesentziehung sanktioniert haben anstatt die Mutter deswegen zu belangen, schließt er auf Vorbehalte der Bundesrepublik gegen das Übereinkommen. Jener fürsorgliche Grundgesetzartikel scheint ihm deutsche Mütter sogar vor deutschen Gesetzen zu schützen: Der § 235 StGB stellt die Entziehung Minderjähriger hierzulande unter Strafe.

Die Mutter schaltet Interpol ein. Doch verständigt man sich im September 1998 auf eine einvernehmliche Scheidung in Frankreich. Julian lebt bei der Mutter in Hamburg und besucht den Vater regelmäßig für mehrere Wochen. Im Mai 1999 schließlich hat man das gemeinsame Haus verkauft und den Erlös geteilt. Als die Mutter im Juni einen vereinbarten Besuch des Kindes absagt, ist für Olivier Karrer der casus belli gegeben. Er reicht am 17. Juli die Scheidung „pour faute“, nach dem Schuldprinzip, ein. Im August besucht Julian – der Mutter ist die französische Scheidungsklage nicht zugestellt worden – den Vater. Der lehnt am Ende des Besuchs die Rückgabe des Kindes ab, um das Sorgerecht in Frankreich regeln lassen zu können. Am nächsten Tag erscheinen zivile Kriminalbeamte und verhaften Karrer mit der Begründung, es läge eine Sorgerechtsentscheidung eines deutschen Gerichts vor. Karrer verbringt zusammen mit Julian eine Nacht in der Zelle und wird am nächsten Tag, bevor er einen Anwalt einschalten kann, von seinem Sohn getrennt. Zehn Wochen später, im November 1999, erfährt er, daß das Familiengericht Hamburg bereits im September des Vorjahres seiner Frau das alleinige Sorgerecht übertragen hatte.

Neben drei weiteren französischen Vätern sowie auch einer Mutter, die ihre Kinder zum Teil seit acht bis zehn Jahren nicht zu sehen bekommen, haben sich auf den Treppenstufen des Deutschen Doms auch zwei deutsche Väter zum Hungerstreik eingefunden. Der Berliner Bernd Buhl hat seinen, aus der Ehe mit einer Franco-Kanadierin hervorgegangenen Sohn Josa vor 369 Tagen zum letzten Mal gesehen. Die Mutter und das damals knapp zweijährige Kind kamen von einem sechswöchigen Aufenthalt in Quebec nicht wieder zurück. Buhl hatte mehr Vertrauen in das deutsche Verhalten zum Haager Übereinkommen und reagierte mit einem Antrag auf Rückführung. Die Weiterleitung des Antrags an die kanadische Behörde und ein dort abgewarteter deutscher Gerichtsentscheid über das Sorgerecht erreichten allerdings eine Dauer, die Quebec schließlich zum sogenannten „gewöhnlichen Aufenthaltsort“ des Kindes machten, Und dieser ist für ebendiese Entscheidung maßgebend.

Schon im Juli des vergangenen Jahres machten binationale Eltern, deren Kinder vom anderen Elternteil nach Deutschland entführt wurden, in Berlin auf deutsche Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen aufmerksam. Es waren vor allem Amerikaner, die den Besuch des amerikanischen Präsidenten Clintion für ihr Anliegen nutzten. Mit Erfolg, denn Clinton widmete dem Thema amerikanischer Scheidungswaisen nicht nur mehr als die Hälfte eines Gesprächs mit Kanzler Schröder, die deutsche Regierung setzte in der Tat eine den Eltern bei dieser Gelegenheit zugesagte Arbeitsgruppe ein. Seit dem ersten Oktober 2000 widmet sich ein Arbeitsstab im Justizministerium der „Beilegung internationaler Konflikte in Kindschaftssachen“. Bereits zu Ende des Jahres 1999, als der Fall Karrer in Frankreich hohe Wellen schlug, hatten die französische und die deutsche Justizministerin eine „Mediatorengruppe“ ins Leben gerufen. Sie besteht aus zwei deutschen Bundestagsabgeordneten, zwei französischen und zwei Europa-Parlamentariern, die außerhalb gerichtlicher Verfahren insbesondere bei deutsch-französischen Trennungsfällen „vermittelnd helfen“ sollen.

Von solch hochkarätiger Fürsorge kann Peter Christof, der zweite in den Hungerstreik getretene deutsche Vater, nur träumen. Die Entziehung seiner beiden Kinder, Julia (8) und Bastian (7), spielte sich innerhalb der Grenzen Bayerns ab. Die Geschichte ist ähnlich unbegreiflich wie die seines Kombattanten Karrer. Nach der Trennung von seiner deutschen Frau wurde zunächst ein gemeinsames Sorgerecht ausgesprochen. Die Kinder lebten unter der Woche beim Vater, an den Wochenenden bei der Mutter. Als die Kinder zunehmend weniger gern zur Mutter gingen, beantragte diese das alleinige Sorgerecht. Peter Christof mußte die Erfahrung vieler deutscher Väter machen, daß vor deutschen Gerichten in der Regel die bloße Tatsache des Widerspruchs gegen das gemeinsame Sorgerecht ausreicht, um dieses aufzuheben. Darüber hinaus wurde er mit einer, die Absurdität des Karrer-Falles noch übertreffenden Interpretation des Begriffs Kindesentziehung konfrontiert. Im Oktober 2000 wollten Julia und Bastian nach einem Umgangsaufenthalt beim Vater nicht mehr zur Mutter zurückkehren. Christof war weder imstande noch willens, die Kinder mit Gewalt zur Mutter zurückzubringen. Daraufhin befahl das zuständige Gericht die polizeiliche Rückführung. Diese mißlang, und das Gericht ordnete eine Anhörung der Kinder an. Vater, Sohn und Tochter erschienen, doch vermochten weder der Richter, noch der Verfahrenspfleger die weinenden Kinder im Gerichtssaal vom Vater loszulösen. Daß die drei schließlich freien Abzug bekamen, lag indessen nicht an der in allen Kinder-Konventionen enthaltenen Bestimmung, wonach der Wille und die Meinung der Kinder „gebührend“ zu berücksichtigen seien. Das Gericht wartete lediglich eine bessere Gelegenheit ab. Im Nebelmonat November wurden der Vater in polizeilichen Gewahrsam genommen und die Kinder zur Mutter verbracht. Seit 244 Tagen hat Peter Christof Julia und Bastian nicht mehr gesehen.
 

13.07.2001
FAZ
 


Leserbrief betr.: "In 783 Tagen einmal" in der FAZ vom 13.07.01

man möchte die Bundesrepublik eine „Bananenrepublik“ nennen aufgrund dieses monströsen Unrechts gegenüber Kinder und ihren nicht sorgeberechtigten Elternteilen. Aber man fragt sich unwillkürlich, ob dies nicht in diesem konkreten Feld eine Beleidigung aller Bananenrepubliken wäre.

Das Unrecht insbesondere gegenüber den vielen Vätern und (seltener) den Müttern ist himmelschreiend. Die Kinder müssen es ausbaden, denn ihnen wird eine Hälfte ihrer Identität gestohlen – unter dem fetten Grinsen der allein Sorgeberechtigten, unserer viel gefeierten „Alleinerziehenden“, die dafür auch noch staatlich gefördert werden. Deutschland verfügt inzwischen über einen regierungsamtlichen Feminismus, dessen Indolenz selbst gegenüber dem Rechtsstaat grenzenlos zu sein scheint. Im BGB heißt es: „Jedes Kind hat das Recht auf Umgang mit Mutter und Vater.“ Die Rechtswirklichkeit ist dem gegenüber ein Hohn - für nicht sorgeberechtigte Deutsche, und schlimmer noch für Ausländer, deren Kinder von deutschen Elternteilen hierher entführt werden.

Es ist Ihrer Zeitung wirklich zu danken, dass Sie dies nicht einfach ignorieren, wie es leider auch unsere Familienministerin tut. Bleiben Sie dran an dem Thema! Sie machen sich damit um die ganze Gesellschaft verdient!

Mit freundlichen Grüßen
Joachim Bell


Leserbrief zu "In 783 Tagen einmal" in der Ausgabe vom 13.07.01

Ihr sachkundiger Bericht über die Hintergründe der Aktion einer internationalen Gruppe von Vätern, die derzeit in Berlin mit einen Hungerstreik auf eklatante Mißstände im deutschen Familienrecht aufmerksam macht, verdient große Anerkennung. Offensichtlich bedarf es erst eines drohenden internationalen Eklats, um die Aufmerksamkeit deutscher Politiker auf ein Gebiet zu lenken, in dem es auch intern erheblichen Reformbedarf gibt. Es ist nur zu hoffen, dass die sich momentan zeigende Aufmerksamkeit auch zu politischen Konsequenzen führt.

Dass dazu erst eine solche spektakuläre Aktion notwendig zu sein scheint, macht tief betroffen. Immerhin hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland erst im vergangenen Jahr zu Schadenersatzleistungen an einen Vater verurteilt, dem deutsche Gerichte jahrelang den Umgang verwehrt hatten.

An der weithin geübten Rechtspraxis hat sich indes wenig geändert. Allen aktuellen psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz gelten Väter weiterhin de facto als Eltern zweiter Klasse. Das Kindschaftsrecht von 1998, dem einige fortschrittliche Intentionen zu Grunde liegen, ist leider unter der Ägide der rot-grünen Bundesregierung nicht konsequent weiter entwickelt worden. Das nun zumindest formal in der Regel weiter bestehende gemeinsame Sorgerecht nach Scheidungen kann von Vätern nach wie vor nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen überhaupt wahrgenommen werden.  Die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder bleiben im tatsächlichen Leben weiterhin überwiegend dem subjektiven Ermessen der Mütter unterstellt, das oft genug von irrationalen Ablehnungsmustern geleitet ist.

Im Sinne der Menschen, die den Hungerstreik in Berlin als letztes Mittel gewählt haben, um die Einhaltung des Menschenrechtes  auf Umgang mit ihren Kindern zu erreichen, kann man nur hoffen, dass die politisch Verantwortlichen sich endlich an ihre Hausaufgaben heranmachen, statt beständig frauen(verbands)orientierte Klientelpolitik zu betreiben.

Gerd Vathauer
gerd_vathauer@web.de
www.gerdvathauer.de


Leserbrief zu "In 783 Tagen einmal" vom 13.07.01

Vielen Dank, für den o. g. Artikel, der vielleicht dazu beiträgt, das Unheil, das deutsche Familiengerichte an Scheidungs-/Trennungskindern und entsorgten Eltern anrichtet, vielleicht etwas zu mildern.

Dazu noch ein Fall, der mir teilweise aus eigener Erfahrung, teilweise aus den Schilderungen eines lothringischen Freundes bekannt ist, der mit dem Großvater, von dem die Rede ist, noch kurz vor dessen Tode sprach.

B. (der Vater), ein Elsässer, war mit einer deutschen Frau verheiratet. Sie lebten in der Nähe Straßburgs und hatten zwei Söhne, zu Beginn des Dramas 4 und 6 Jahre alt. Eines Tages kommt B. von der Arbeit nach Hause - niemand mehr da. Die Mutter hatte die Kinder nach Deutschland entführt. Die völker- und menschenrechtswidrige Entführung wurde von einem Münchener Gericht mit dem alleinigen Sorgerecht für die "Mutter" belohnt, das sich damit über die Rechtslage selbstherrlich hinwegsetzte, wie sie in Frankreich, dem Aufenthaltsland der Kinder vor der Entführung, bestand und besteht. So weit, so üblich.

Der Großvater liebte seine Enkel über alles und verbrachte jede freie Minute mit ihnen. Sie hingen sehr an ihm und gingen dort ein und aus. Den Verlust seiner Enkel konnte er nie verwinden. Hier ein Abriss seiner Lebensgeschichte: Den ersten Weltkrieg erlebte er als Kind. Anschließend die Notzeiten. Dann die "Goldenen Zwanziger". Erneute Notzeiten in der Weltwirtschaftskrise. Kurz darauf der zweite Weltkrieg. Der Mann durfte für "Führer, Volk und Vaterland" seine Knochen als deutscher Soldat in Russland zu Markte tragen. Nach dem "Endsieg" war er als "Wieder-Franzose" und ehemaliger Zwangs-Angehöriger der deutschen Wehrmacht jahrelangen Verdächtigungen ausgesetzt.

"Mein Leben war nicht einfach, ich habe Schlimmes durchgemacht", sagte er meinem Freund aus Lothringen kurz vor seinem Tod, "aber ich habe es überstanden. Nur mit dem Verlust meiner Enkel werde ich einfach nicht fertig. Das ist das Allerschlimmste, was ich jemals erleben musste"

Wenige Tage nach diesem Gespräch erhängte sich der über 80-jährige Mann.

Die an seinem Tod Verantwortlichen walten heute noch ihres Amtes.

Mit freundlichen Grüßen
Hartmut Schewe