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Der Spiegel, 06.08.2001

F A M I L I E

Sehnsucht nach Samuel

Väter und Mütter, die ihre vom Partner nach Deutschland entführten Kinder oft jahrelang nicht sehen konnten, protestieren in Berlin gegen deutsche Ämter und Gerichte.

KAREN ANDRESEN

Die Bundesfamilienministerin hatte eine gute Nachricht. Eine neue Studie habe ergeben, dass "Väter von heute" sich "aktiv an der Betreuung und Erziehung von Kindern beteiligen und die Entwicklung der Kleinen bewusst erleben" wollen, ließ Christine Bergmann (SPD) Mitte Juli verbreiten. Die neue Vätergeneration verdiene die Unterstützung "der ganzen Gesellschaft".

Olivier Karrer, Hervé Chapelliere und Michael Hickman sind Väter, und um ihre Kinder kümmern wollen sie sich auch. Doch statt sich über den Zuspruch der Ministerin zu freuen, stehen die beiden Franzosen und der Südafrikaner nur knapp zwei Kilometer vom Bergmann-Ministerium entfernt und hungern - aus Protest gegen deutsche Behörden und Gerichte. Die, so ihr Vorwurf, würden ihnen ihre von den Müttern nach Deutschland entführten Kinder nicht wieder herausgeben.

Seit rund drei Wochen treffen sich jeden Tag gegen zehn Uhr morgens etwa zehn Männer und einige wenige Frauen an der Weltzeituhr am Alexanderplatz, um bis zum späten Nachmittag die Passanten für ihr Familienleid zu interessieren. Gegessen wird während der ganzen Zeit nichts, um dem Anliegen besonderen Nachdruck zu verleihen.

Nur ein einziges Mal habe er seinen Sohn in zwei Jahren sehen können, klagt etwa Olivier Karrer, einer der Organisatoren der Demo. Die Ehefrau des französischen Kaufmanns war 1998 nach einem Besuch bei der Mutter in Hamburg mit dem damals fast vierjährigen Julian nicht in das Haus der Familie in der Nähe von Paris zurückgekehrt.

Nach dem Haager Abkommen, das in der Bundesrepublik seit 1990 Gesetz ist und das helfen soll, Kindesentführungen zu verhindern, hätte der Junge sofort wieder nach Frankreich gebracht werden müssen. Stattdessen bekam der Franzose Post vom Bezirksamt Hamburg-Nord. Seiner Frau stehe für den Sohn Unterhalt zu, teilte ihm die Behörde mit, deshalb möge der Vater doch bitte umgehend die bisher amtlich vorgestreckten 239 Mark pro Monat an die Landeshauptkasse Hamburg überweisen. "Damit erfuhr ich überhaupt erst, was meine Frau vorhat", erinnert sich Karrer.

Vergebens bittet er das Amt, die Zahlungen einzustellen. Julian würde zu Hause in Frankreich "nicht nur den Unterhalt, den er braucht, sondern auch die ganze Liebe" bekommen, schreibt er an das Jugendamt. Doch seine Einwände zählen bei den deutschen Behörden nicht. Drei Monate später überträgt ein Familiengericht der Hansestadt der Mutter das alleinige Sorgerecht. Karrer wird nicht einmal angehört.

Seither führt er einen erbitterten Kampf um den Sohn. "Es kann doch nicht sein, dass die Frau das Kind einfach mitnimmt, und alle Ämter in Deutschland unterstützen das", empört sich der französische Vater.

Jahrelang spielten sich Rosenkriege um entführte Kinder irgendwo ganz weit weg ab. In Iran etwa oder im Libanon - in Ländern jedenfalls, die das Haager Abkommen, mit dem das Faustrecht in der Ehe unterbunden werden soll, nicht unterzeichnet haben.

Im vermeintlich zivilisierten Westen schien es dagegen den innerfamiliären Kinderklau gar nicht zu geben. Bis im vergangenen Jahr die Frau des britischen Botschafters in den USA, Lady Catherine Meyer, in Washington gegen deutsche Gerichte und Ämter mobilmachte. Deutschland stehle Kinder, klagte die Botschafterfrau (SPIEGEL 18/2000). Meyers zwei Söhne waren 1994 vom deutschen Vater nach einem Ferienaufenthalt in Niedersachsen zurückgehalten worden.

Seither werden immer mehr Konflikte um Kindesentführungen auch zwischen westlichen Demokratien bekannt. Etwa als im vergangenen Herbst die Popdiva Nina Hagen ihren damals zehnjährigen Sohn Otis gegen den Willen seines Vaters aus Kalifornien zurückholte. Ninas ehemaliger Lebensgefährte hatte Otis zuvor in Los Angeles zurückgehalten.

Sogar der damalige Präsident Bill Clinton setzte sich während seines Deutschlandbesuchs im Sommer vergangenen Jahres für die verlassenen amerikanischen Väter und Mütter ein. Für Glenn Gebhard etwa, der seine bei der Mutter in Deutschland wohnenden Zwillinge Glenn und Shannon seit 1994 nicht mehr sehen durfte. Oder für Joseph Cooke, dessen Kinder mit Billigung deutscher Gerichte und ohne Kontakt zum Vater bei deutschen Pflegeeltern leben.

Nach dem Haager Abkommen sollen entführte Kinder "sofort" zurückgegeben werden, um die zwischen die Ehefronten geratenen Jungen und Mädchen davor zu bewahren, sich an ihrem neuen Wohnort einzuleben. Doch die deutschen Richter halten sich seit Jahren selten an die Vorgabe - angeblich zum Besten der Kinder. Weil das Haager Übereinkommen auch die Möglichkeit einräumt, von einer Rückkehr abzusehen, wenn ein Kind sich "widersetzt", befragten Richter und Jugendämter die betroffenen Jungen und Mädchen zunächst nach ihren Wünschen.

Die langwierige Prozedur, die am Ende oft gerade denjenigen begünstigt, der am rücksichtslosesten den Umgang seines Kindes mit beiden Elternteilen zu verhindern sucht, ist mittlerweile auch bei deutschen Familienrechtlern in Verruf geraten. "Ein Kind wird emotional hin- und hergerissen und versucht immer, es dem recht zu machen, bei dem es gerade ist", sagt der Essener Scheidungsanwalt Dirk Sprünken.

Die massive internationale Kritik an der Praxis deutscher Ämter und Gerichte hat inzwischen Wirkung gezeigt:

  • Eine Mediatorengruppe aus deutschfranzösischen Parlamentariern müht sich seit gut eineinhalb Jahren mit einigem Erfolg, zerstrittene Ehepaare wieder so weit ins Gespräch zu bringen, dass sie sich wenigstens über Besuchsrechte einigen können.

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  • In transatlantischen Ehefehden versucht seit vergangenen Sommer eine im Justizministerium eingerichtete deutschamerikanische Expertengruppe zu vermitteln.

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  • Um zu verhindern, dass mit internationalem Recht nicht ausreichend vertraute Richter über Kindesentführungen urteilen, wurde die Zahl der zuständigen Gerichte von bisher mehr als 600 auf 24 eigens spezialisierte Familiengerichte verringert.

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  • Seit März dieses Jahres dürfen deutsche Richter bei Ehen zwischen EU-Bürgern nur noch dann über das Sorgerecht entscheiden, wenn das Kind in Deutschland seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat.
Doch die Demonstranten vom Alexanderplatz mögen an die neuen Zeiten beim Umgang deutscher Gerichte mit ausländischen Ehepartnern so recht noch nicht glauben. "Ich kann keine Gerechtigkeit sehen", sagt der südafrikanische Umweltberater Hickman, dessen zwei Söhne bei der Mutter in Wilhelmshaven leben. Und auch der Amerikaner Glenn Gebhard ist skeptisch. Sympathisch seien ihm bei mehreren Treffen die Experten aus dem deutschen Justizministerium vorgekommen, sagt er, aber helfen, seine Kinder zu sehen, konnten sie ihm auch nicht.

Für Angelica Schwall-Düren, SPD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied in der deutsch-französischen Mediatorengruppe, resultiert die Enttäuschung aus dem "Missverständnis, dass wir etwas erzwingen könnten". Tatsächlich sind auch die engagiertesten Parlamentarier machtlos, wenn beispielsweise eine Mutter, die ihr Kind entführt hat, partout nicht einlenken will und ihrem Ex-Mann nicht einmal zugestehen mag, das gemeinsame Kind zu besuchen.

Denn anders als etwa in Frankreich werden Besuchsrechte, selbst wenn sie gerichtlich angeordnet wurden, in der Bundesrepublik so gut wie nie amtlich durchgesetzt. Während französische Väter oder Mütter, die sich an solche Abmachungen nicht halten, schlimmstenfalls sogar mit einer Haftstrafe rechnen müssen, passiert in Deutschland meist gar nichts. Das, findet auch Parlamentarierin Schwall-Düren, "ist ein Unding".

Im Streit eines getrennt lebenden deutschen Paares um Besuchsrechte hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einem Hamburger Vater im vergangenen Juli sogar eine Entschädigung von 35 000 Mark zugesprochen. Der Mann hatte seinen bei der Mutter lebenden Sohn über Jahre nicht sehen können. Die von ihm angerufenen deutschen Gerichte hatten Treffen zwischen Vater und Sohn mit der Begründung abgelehnt, das Verhältnis zwischen den Eltern sei für Besuche zu schlecht. Für die Straßburger Richter wurde damit das Recht des Vaters auf Familienleben verletzt.

"Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz in Deutschland zu sein, dass derjenige vor Gericht gewinnt, der sich am meisten gegen die Rechte der Kinder stellt", klagt der Amerikaner Gebhard.

Hervé Chapelliere sollte mit seinem in Deutschland lebenden Sohn Samuel, so hatten es deutsche Familienrichter entschieden, an einem Wochenende pro Monat zusammen sein können. Zweimal reiste der französische Psychotherapeut aus Paris an und traf sein Kind. Vor dem dritten Besuch kam dann ein Brief seiner ehemaligen Lebensgefährtin, dass es leider nicht ginge. Inzwischen, sagt Chapelliere, habe er seinen Sohn seit vier Jahren nicht mehr gesehen und wisse nicht einmal mehr, wo er wohne.

Auch für Michael Hickman hat der Kleinkrieg um Besuchsrechte gravierende Folgen. Rund 15 Stunden muss der Südafrikaner von Durban nach Deutschland fliegen, um seine Söhne Sebastian und Richard in die Arme schließen zu können. Dennoch hat nur die Hälfte der geplanten Treffen auch wirklich geklappt.

"Ich habe kein Recht, meine Kinder zu sehen, nur weil meine Frau Nein sagt", erklärt Hickman verbittert. "Das hier ist kein Rechtsstaat."
 

Der Spiegel, 08/06/2001

F A M I L Y

Searching For Samuel

Fathers and mothers, cut off since several years from their children who have been parentally kidnapped to Germany, protest in Berlin against German administrations and courts.

By Karen Andresen

The Federal Minister of Family Affairs had good news. A new study has found that "fathers nowadays" wish "to actively take part in the care and education of children and to be consciously involved the early development of infants", according to Christine Bergmann (SPD) in a statement of middle of July. This new generation of fathers deserves the support "of our whole society".

Olivier Karrer, Hervé Chapelliere and Michael Hickman are fathers, and they also want to care about their children. But instead of being pleased about the minister's encouragement, these two Frenchmen and the South African stand outside - scarcely two kilometers away from her Ministry - and starve themselves for justice, as a protest against German authorities and courts. Those, is their reproach, would refuse to produce their children, kidnapped by the mothers to Germany.

For approximately three weeks, each day from ten o'clock in the morning up to the late afternoon, about ten men and some few women have met at the World Time Clock on Alexanderplatz, in order to spark public interest in their family distress among the passers by. During the whole time, nothing has been eaten, in order to emphasize these issues.

Only once could he see his son in two years, laments Olivier Karrer, one of the organizers of the demonstration. In 1998, the wife of the French businessman did not come back to the family house near Paris after a visit to her mother in Hamburg with the almost four-year old son Julian.

According to the Hague Convention, which became law in 1990 within the Federal Republic and is designed to prevent child abductions, the boy should have been returned to France immediately. Instead, the Frenchman got a form letter from the district administration of Hamburg North. Since his wife was entitled to child support for the son, the authority indicated, the father was herewith required to promptly deposit to the State Exchequer in Hamburg the 239 marks [122 euros] per month that had so far been paid in advance by the authority. "That was the first clue I had", says Karrer, "of what my wife was really up to".

In vain he asked the administration to cease payment. At home in France, Julian would get "not only all the child support he needs, but also the whole love", he wrote to the youth welfare office. But his objections did not count with the German authorities. Three months later, a family court in the hanseatic city awarded the mother exclusive custody. Karrer has not even been heared.

Since that time he has lead an acrimonious fight for the son. "I cannot accept this as a done deed, when a woman just carries off a child, and all the offices in Germany support that act", the French father declares indignantly.

For many years, such 'Wars of Roses' over kidnapped children took place quite far away; somewhere in Iran or Lebanon, perhaps - in countries which have not signed the Hague Convention, designed to prevent the club law in marriage.

In the allegedly civilized West, parental kid snatching did not seem to exist at all. Until last year the wife of the British Ambassador to the USA, Lady Catherine Meyer, mobilized in Washington against German courts and administrations. Germany steals children, complained the Ambassador's wife (SPIEGEL 18/2000). Meyer's two sons had been adversely detained since 1994 by the German father after a holiday stay in Lower Saxony.

Since that time, more and more conflicts stemming from child abductions have been made known also in Western democracies. For instance last autumn, when pop star Nina Hagen successfully recovered her ten-year old son Otis from California back to Germany, against the will of his father. Nina's former boyfriend had retained Otis in Los Angeles before.

Even president Clinton has - during his visit to Germany in the summer of last year - spoken out on behalf of the American left-behind fathers and mothers. For instance of Glenn Gebhard, not allowed since 1994 to see his twins Glenn and Shannon, living with their mother in Germany; or of Joseph Cooke, whose children live with German foster parents, without contact to their father, by approval of German courts.

According to the Hague Convention, kidnapped children are to be returned "immediately" in order to prevent the boys and girls, fallen between the fronts of their parents, from settling in at the new residence. But for years now, the German judges hold themselves rarely to that specification - allegedly in the best interests of the children. Because the Hague Convention also allows the possibility of refraining from ordering a return if a child is "opposed" to it, judges and youth welfare offices first interrogate the boys and girls concerned and ask about their wishes.

The resulting lengthy procedure, which at the end often favors just the parent who tries the most ruthlessly to inhibit the contact of the child to both parents, is meanwhile discredited also in the opinion of German family law experts. "A child is emotionally torn and tossed about, and will always attempt to please the one with which it is just now", says divorce lawyer Dirk Spruenken from Essen.

In the meantime, the massive international criticism at the practice of German state offices and courts has shown some effect:
 

  • A mediation group of Franco-German parliamentarians has striven for   over one and a half years with some success to bring married couples   deadlocked in conflict back to the table, so that they can agree at   least on some visitation rights.

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  • In transatlantic marriage feuds, a German-American team of experts   created inside the Ministry of Justice has tried to mediate since   last summer.

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  • In order to preclude that judges which are insufficiently familiar   with international law decide about child abduction cases, the number of competent courts was reduced from more than 600 to 24 specialized family courts.

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  • Since March this year, German judges may decide on custody in   marriages between EU citizens only if the child has his legal   residence in Germany.


But the Alexanderplatz demonstrators may not yet believe in the new times concerning the handling of foreign marriage partners in German courts. "I can see no justice", says the South African environmental advisor Hickman, whose two sons live with their mother in Wilhelmshaven. The American Glenn Gebhard is also skeptical. At several meetings, the experts from the German Ministry of Justice seemed pleasant enough, he says, but they could not help him to meet his children either.

For Angelica Schwall-Dueren, MP in the Bundestag (SPD) and member in the Franco-German Mediation Commission, the disappointment results from the "misunderstanding that we could force something through". Indeed, even the most involved parliamentary representatives are actually powerless, if for example a mother who kidnapped her child does absolutely not want to give in, and simply prefers not to allow her ex husband even to visit their common child.

In contrast to France, implementation of access rights is almost never ensured officially in the Federal Republic, even if they were arranged judicially. Whereas French fathers or mothers who do not adhere to such agreements must reckon even on jail in the worst case, usually nothing at all happens in Germany. That practice, says even MP Schwall-Dueren, "is an absurdity".

A case of a separated German couple in controversy over visitation rights ended up in the European Court for Human Rights: last July, the Hamburg father even received compensation of 35'000 marks [17'900 euros]. For years on end, the man had not been able to see his son living with the mother. The German courts to which he appealed had rejected meetings between father and son with the reason that relations between the two parents were too bad for visitation. For the Strasbourg judges, the right of the father to a family life had been therewith violated.

"It seems to be an unwritten law in Germany that whoever takes as stance most opposed to the rights of the children, prevails in court", laments the American Gebhard.

Hervé Chapelliere should be one weekend per month with his son Samuel living in Germany, German family judges had decided so. Twice the French psychotherapist came from Paris and met his child; before the third visit, a letter of his former life companion came, announcing that it would not go off, unfortunately. Since then, Chapelliere says, four years have passed, he did not see his son, and he does not even know where Samuel lives anymore.

For Michael Hickman too, spats around visitation rights have had dire consequences. The South African from Durban must fly approximately 15 hours to Germany, in order to be able to embrace his sons Sebastian and Richard. However, only half of the planned meetings have ever really worked out.

"I have no right to see my children, just because my wife says no", explains Hickman embittered. "This State lacks a Bill of Rights."

Translation: R. Vikstrom
 

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www.vaeter-aktuell.de/international-page/Hungerstreik010806-DE-EN.htm