Wenn die Beziehung am Ende ist

Immer häufiger führen binationale Ehen zu Sorgerechtskonflikten / Eine Kommission versucht zu vermitteln

Von Sabine Hamacher (Paris)

Als ob sich ein Drehbuchautor den Fall ausgedacht hätte: Nach dem Scheitern der Ehe Tiemann/Lancelin 1997 spricht ein deutsches Gericht dem Elternpaar das gemeinsame Sorgerecht für Sohn und Tochter zu. Im Jahr darauf nimmt die gebürtige Französin Cosette Lancelin die beiden Kinder mit zu ihren Eltern nach Frankreich, obwohl sie das ohne Sondererlaubnis nicht darf. Sie beantragt das Sorgerecht für Matthias und Caroline und bekommt es von einem französischen Gericht prompt zuerkannt. Den Rückführungsantrag des empörten Vaters Armin Tiemann lehnt die französische Justiz ab.

Der Gemeindedirektor aus Niedersachsen lässt daraufhin seine beiden Kinder auf einer französischen Landstraße entführen und zurück in die Bundesrepublik bringen. Dort schließt sich ein monatelanger Rechtsstreit an, der in Frankreich auf großes Unverständnis stößt und bis vor das Bundesverfassungsgericht geht. Das entscheidet zu Gunsten der Mutter, und die Wogen glätten sich. Seitdem leben Matthias und Caroline bei ihr in Frankreich.

Bei ihrer Mutter in Deutschland lebt die 15-jährige Tochter von Denis Supersac. Wenigstens vermutet er das, denn seit 1993 hat der Übersetzer keinen Kontakt mehr zu ihr. Auch von seiner deutschen Exfrau kennt der Franzose weder Adresse noch Telefonnummer. Nach der Scheidung 1992 hatte er das Sorgerecht für Jeanette und Maxime bekommen; die Ferien verbrachten beide bei der Mutter in Augsburg. "Ich wollte nie, dass die Kinder ihre Mutter nicht mehr sehen. Kinder brauchen beide Eltern", sagt Supersac. Ostern 1993 geht das gut, im Sommer 1993 aber kommen sie nicht mehr nach Nantes zurück. Stattdessen kommt ein Brief vom Gericht, er habe die Kinder geschlagen. "Völlig absurd", sagt Supersac. "Die Kinder haben bei mir gewohnt, alles war friedlich, plötzlich stand ich am Pranger!"

Es dauert sieben Monate, bis er die Behörden von seiner Unschuld überzeugte und sein Sorgerecht bestätigt ist. Als er die Kinder von der Schule abholen und nach Frankreich zurückbringen will, ist nur Maxime da, von Jeanette fehlt jede Spur. Die Polizei sagt, sie könne das Mädchen nicht finden; Vater und Sohn fahren allein. Dass er seine Tochter jetzt seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat, führt Supersac auf ein Komplott der Justiz zurück.

Manipulation, Überheblichkeit, Missachtung internationaler Abkommen, Nationalismus - die Vorwürfe gegen die deutschen Behörden in binationalen Auseinandersetzungen ums Sorgerecht sind zwar nicht immer gerechtfertigt. Ganz aus der Luft gegriffen sind sie aber auch nicht. Das Haager Übereinkommen von 1980 schreibt vor, "das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen" und es "unverzüglich an seinen gewöhnlichen Wohnort" zurückzubringen.

Dass dies oft nicht geschieht, liegt nach Ansicht von Angelica Schwall-Düren, Bundestagsabgeordnete der SPD und Mitglied der deutsch-französischen parlamentarischen Mediatorengruppe, auch an der "Unsicherheit der befassten Richter" und "bürokratischer Schwerfälligkeit". So passiert es immer wieder, dass Verfahren in Fällen von Kindesentziehung wesentlich länger dauern als die erlaubten sechs Wochen und die Richter gegen die Heimkehr der Kinder stimmen, weil im Sinne des Kindeswohls - nach deutscher Auffassung - eine erneute Rückführung nach langem Aufenthalt in Deutschland nicht zumutbar wäre.

Unerträglich findet Supersac, der 1996 die Selbsthilfegruppe "SOS Kindesentführung durch Deutschland" gründete, die Haltung der deutschen Behörden. "In den meisten Ländern denkt man, Kinder brauchen beide Eltern - in Deutschland ist das nicht so im Gesetz verankert." Er selbst würde zwar seinen Sohn nie wieder nach Augsburg zur Mutter lassen, weil er Angst hätte, dass auch dieser verschwinden könnte. Vor zwei Jahren unternahm er aber einen neuen Anlauf, um wenigstens ein Treffen zwischen den Geschwistern zu ermöglichen. Über die deutsch-französische Mediatorengruppe ließ er seiner Exfrau vorschlagen, dass die Kinder sich - ohne Eltern - in Begleitung von Sozialarbeitern in England treffen sollten. Die Mutter ging auf das Angebot gar nicht erst ein. Dass beide Seiten dem Vermittlungsangebot zustimmen müssen, ist sowohl einzige Chance als auch Dilemma der Mediatorengruppe. In der Kommission, die sich seit 1999 trifft, arbeiten drei deutsche und drei französische Abgeordnete. Sie ist das Ergebnis einer Intervention von höchster Stelle, denn die deutsch-französischen Konfliktfälle um Sorge- und Umgangsrecht kommen seit dem Fall Tiemann/Lancelin bei den Gipfeltreffen zur Sprache.

Widersprüchliche Gerichtsentscheidungen, unterschiedliche Regelungen, Irrungen, Wirrungen - "SOS Kindesentführung durch Deutschland" schätzt, dass mindestens 150 Kinder aus deutsch-französischen Beziehungen betroffen sind. Eine offizielle Zahl gibt es nicht. Die Vermittler sollen nun eingreifen, wenn es vor Gericht nicht mehr weitergeht, ein Elternpaar in der Sackgasse steckt. Einfach ist das nie. Oft sei es erst "nach einer Phase der Affektabfuhr" möglich, mit beiden Eltern ein gemeinsames Gespräch zu führen, weil "zu viele Verletzungen, Missverständnisse, Enttäuschungen, ja Hass" dem entgegenstünden, berichtet Schwall-Düren. Ihre Arbeit setze bei den "positiven Ressourcen" der Eltern an, ihrer Liebe zu den Kindern also, und versuche Schritt für Schritt, wieder Vertrauen zu schaffen.

So viel Vertrauen, dass die beiden Töchter inzwischen die Ferien regelmäßig bei ihrem Vater in Frankreich verbringen, konnte die Gruppe in einem zunächst schier unlösbaren Fall aufbauen, wie Schwall-Düren berichtet: Die Mutter hat das Sorgerecht, der Vater gar keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern. Die Mutter ist nun bereit, Treffen zwischen Töchtern und Vater zu ermöglichen, allerdings nur in Deutschland und nur in Begleitung. Das will der Vater nicht, da er wegen des Vorwurfs eines Entführungsversuchs bereits eine Nacht in deutscher Haft verbracht hat. Schließlich lenkt er ein und erklärt sich bereit, erste Schritte zu unternehmen, um das Vertrauen wiederherzustellen. Er telefoniert regelmäßig mit den Mädchen, dann wird ein Besuchstermin verabredet. Weil der begleitende Sozialarbeiter keine Zeit hat, muss das Treffen um ein paar Tage verschoben werden. Der Vater sieht rot und tritt in Hungerstreik. Die französischen Mitglieder der Mediatorengruppe können ihn schließlich beschwichtigen. Ein neuer Besuchstermin wird festgesetzt, der Vater reist an, und alles läuft gut. Die nächsten Ferien verbringt die Mutter mit den Kindern in Frankreich, wo diese den Vater und seine Verwandten stundenweise besuchen. Nächster Schritt: Die Mädchen machen Urlaub beim Vater.

Erfolgreich abgeschlossen ist ein Fall für Schwall-Düren schon, wenn wieder Kontakt zwischen Kindern und zweitem Elternteil besteht - "mit weiteren Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft". Etwa 40 Anfragen mit der Bitte um Mediation hat die Kommission inzwischen erhalten. Aber schon der erste Schritt - die Zustimmung des zweiten Elternteils zur Vermittlung - sei oft sehr schwierig, weil die Mutter oder der Vater, bei dem die Kinder leben, keine Veranlassung dazu sehe. "Wenn einer nicht mitmachen will, hat Mediation keinen Sinn." Für Denis Supersac ist die Mediatorengruppe verzichtbar. "Mag sein, dass ein oder zwei Fälle gelöst worden sind, die waren dann aber nicht so schlimm", urteilt er. Er hält es für die beste Lösung, ein für Kindesentziehung zuständiges Gericht, etwa in Straßburg, einzurichten. Eine kleine Gruppe von Richtern könnte überstaatlich entscheiden.

Die Zahl der entscheidungsbefugten Gerichte in Deutschland ist zwar bereits vor zwei Jahren drastisch verringert worden: von früher 600 auf bundesweit 24. Dennoch könnte sich auch die Mediatorengruppe eine noch stärkere Konzentration vorstellen, um zusätzlichen Schwierigkeiten, wie mangelhaft ausgebildeten oder unsensiblen Richtern, vorzubeugen. Um die Lage weiter zu verbessern, werden Juristen Schulungen in internationalem Familienrecht angeboten und Richter ausgetauscht. Die Kommission pocht darauf, diese Ansätze weiter zu verfolgen. Denn sicher ist, dass die Zahl der binationalen Verbindungen - ob verheiratet oder nicht - steigt und mit ihr die der Scheidungen und Trennungen. Dass die Leidtragenden meist die Kinder sind, ist Binsenweisheit.

10.08.2001
Frankfurter Rundschau

www.fr-aktuell.de/fr/300/t300003.htm