Der Europarat feiert das 200jährige
Bestehen
des Französischen Bürgerlichen
Gesetzbuchs (Code Civil)
- 21. und 22. Oktober 2004
Es gilt das gesprochene Wort
Rede des französischen
Justizministers Dominique Perben
(Straßburg, 21.-22. Oktober 2004)
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir sind heute hier zusammengekommen, um das 200jährige Bestehen des französischen Bürgerlichen Gesetzbuchs zu feiern, aber vor allem um seine Bedeutung für Europa und seine Modernität zu würdigen. Warum haben wir gerade dieses Forum für die Feier seines 200jährigen Bestehens gewählt?
Der Europarat ist heute für 46 Länder unseres Kontinents das Haus des Rechts und der Demokratie. Deshalb ist es nur natürlich, dass er den Diskussionen, die wir mit allen unseren europäischen Partnern führen wollen, ein Forum bietet.
Ich möchte der Stellvertretenden Generalsekretärin des Europarates, Frau Maud de Boer-Buquicchio und der Abteilung für rechtliche Angelegenheiten, die durch Guy de Vel vertreten wird, für dieses Kolloquium danken, das gemeinsam mit dem Kassationsgerichtshof und meinem Ministerium organisiert wurde.
Ich danke auch der Europäischen Kommission, die diese Veranstaltung als Teil des ,,Europäischen Tags der Ziviljustiz" unterstützt.
Die Feier zum 200jährigen Bestehen des Code Civil ist nicht nur für französische Rechtsexperten von Bedeutung, sondern auch für die Rechtsexperten in Europa und auf der ganzen Welt. Unser Code Civil hat die Rechtssysteme, die vergleichende Rechtswissenschaftler als Systeme des ,,römischen Rechts", des ,,Zivilrechts" oder des ,,geschriebenen Rechts" bezeichnen, maßgeblich beeinflusst.
Dieser Einfluss beruht zunächst auf geschichtlichen Faktoren. Napoleon benutzte den Code Civil als Instrument seiner Außenpolitik und führte ihn in Deutschland, den Niederlanden und Italien ein. Damit wollte er die Ideale der Französischen Revolution - Freiheit und Gleichheit der Bürger und Recht auf Privateigentum - weiterentwickeln. Die Einführung des Code Civil brachte damals auch die Abschaffung feudaler Rechte mit sich, außerdem wurde durch ihn die zivilrechtliche Eheschließung anerkannt und die Scheidung legitimiert.
Abgesehen von den geschichtlichen Faktoren, beruht der Einfluss, den der Code Civil auf andere Rechtsysteme hat, vor allem auf seiner Modernität. Da durch ihn alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind, markiert er nach dem Zeitalter der Aufklärung und der Revolution eine maßgebliche Etappe der Rechtsgeschichte. Durch den Code Civil spiegeln zwischenmenschliche Beziehungen nicht mehr länger die durch Geburt oder Religion erhaltenen Privilegien wider, sondern sind jetzt Ausdruck von Werten wie Freiheit und Gleichheit und werden vom Gesetz geregelt. Durch die Bedeutung, die einer großen vertraglichen Freiheit beigemessen wurde, wurden die Zünfte und Kirchen, die eigentlich die Beziehungen zwischen den Menschen regelten, in den Hintergrund gedrängt. Das Privateigentum wurde als das absoluteste Recht definiert, was ebenfalls die endgültige Ablehnung des feudalen Systems deutlich machte.
Die Modernität des Code Civil beruht einerseits auf diesen Werten, die die Grundlage einer modernen Gesellschaft darstellen und andererseits auf seiner Fähigkeit sich neuen Herausforderungen anzupassen. Mit der Einführung der Gesetze zur Bioethik, wurde der Begriff ,menschlicher Körper' in den Code Civil aufgenommen. Die Erfahrungen aus einem Jahrhundert medizinischen Rechts wurden jetzt in den Code Civil integriert, außerdem wurde die Achtung des menschlichen Körpers darin festgeschrieben.
Die neuen Technologien - insbesondere die elektronische Technologie und die Informationstechnologie - veränderten die allgemeine Vertragstheorie. Vor vier Jahren wurde durch eine Reihe neuer Artikel das Konzept der elektronischen Unterschrift im Code Civil verankert.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich unsere Umwelt stark verändert. Wir wurden alle Zeugen der nicht mehr rückgängig zu machenden Umweltzerstörungen, die auf unserem Planeten durch ökologische Katastrophen verursacht wurden. Wir sind uns der ernsten Gefahren bewusst geworden, die eine unvernünftige wirtschaftliche und technische Entwicklung mit sich bringen kann.
Die Umsetzung des Umweltrechts ist aufgrund der vielen beteiligten rechtssprechenden Organe eine schwierige Aufgabe. Zudem sehen die internationalen Instrumente bei der Schaffung von Verantwortlichkeiten Beschränkungen vor. Der Präsident der Republik hat die Verabschiedung der Umweltcharta sichergestellt, in der das Recht eines jeden festgelegt ist, in einer gesunden und ausgeglichenen Umwelt zu leben. Deswegen hoffe ich auch, dass eine Diskussion darüber stattfinden wird. wie auf regionaler Ebene Maßnahmen zur Verhütung und Untersuchung von länderübergreifenden, ökologischen Katastrophen umgesetzt werden können und wie Hilfsmaßnahmen durchgeführt werden können.
Sein sowohl rationaler als auch flexibler rechtlicher Rahmen macht den Code Civil zu einem universellen Instrument. Sein Geist und seine Prinzipien haben Parlamente in ganz Europa, aber auch in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Asien beeinflusst.
In Lateinamerika haben die Rechtsexperten gezeigt, dass sie dem Geist des Code Civil und den revolutionären Werten, die er vertritt, eng verbunden sind.
In Louisiana und Quebec dienten der französische Code Civil und die Kodifizierungsmethode als Vorlage.
Auch wenn sich heute viele Länder vom Inhalt des Französischen Bürgerlichen Gesetzbuchs distanziert haben, so hat für sie die Idee der Kodifizierung immer noch große Bedeutung. Brasilianische Rechtsexperten sind der Meinung, dass ihr neues Bürgerliches Gesetzbuch, das 2003 in Kraft trat, die wichtigste Stütze ihres Privatrechts bleiben wird. Jedoch hat die Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit, der die Bestimmungen des Gesetzbuchs immer wieder unterworfen sein werden, das Gleichgewicht ihres Rechtssystems verändert. Ebenso bezieht sich das neue Zivilgesetzbuch von Quebec, das sich mit dem bürgerlichen Recht befasst, auf die Charta der Rechte und Freiheiten. Dieses neue Zivilgesetzbuch, das durch die im Laufe von mehreren Jahrhunderten entstandene französische Rechtskultur, aber auch durch andere europäische Rechtssysteme und durch das Common Law beeinflusst wurde, zeugt von der Lebendigkeit der heutigen Zivilrechtstradition.
Auch auf anderen Kontinenten ist die Kodifizierung ein Erfolg. Durch Verabschiedung eines Bürgerlichen Gesetzbuchs kann ein Land zeigen, dass es ein modernes Rechtssystem annimmt und sich der Marktwirtschaft öffnet. Dies ist in Vietnam und China der Fall.
In den Ländern der Sub-Sahara-Region Afrikas war die Schaffung des OHADA-Rechts - ODAHA ist die Organisation zur Harmonisierung des Wirtschaftsrechts in Afrika - das Ergebnis eines noch viel ehrgeizigeren Plans. Das Wirtschaftsrecht wurde auf regionaler Ebene kodifiziert, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben.
Dank seiner Anpassungsfähigkeit gelang es dem Code Civil, im Laufe der Geschichte Einflüsse von außen aufzunehmen. Er war das Bürgerliche Gesetzbuch eines imperialen Regierungssystems und wurde dann das einer Demokratie. Napoleon benutzte es zunächst als Mittel, um die französische Gesellschaft zu einigen, nun ist es das Band, das die Gesellschaft zusammenhält. Im Laufe der Zeit gab es zehn verschiedene Verfassungen, der Code Civil hat sich der Monarchie, dem Kaiserreich und den fünf Republiken angepasst.
Es ist der Code Civil einer souveränen Nation, in den aber gegenwärtig immer mehr europäisches Recht einfließt. So ist zum Beispiel die europäische Richtlinie über die Haftung für fehlerhafte Produkte ein Teil des Code Civil, genauso wie die Bestimmungen, die die Staatsangehörigkeit regeln.
Ist also die Zukunft des Code Civil eine europäische Zukunft?
Ich denke ja. Die europäische Zukunft des Code Civil hat viele Facetten. Wie Sie wissen werden, hat sich Frankreich an einer Diskussion beteiligt, die von der Europäischen Kommission angestrengt wurde und die dazu führen soll, einen gemeinsamen Referenzrahmen festzulegen: Den Standardkonzepten des Vertragsrechts soll ein gemeinsamer Inhalt gegeben werden.
Wir wollten, dass die Mitgliedsstaaten und führende Vertreter der Wirtschaft in die Diskussion miteinbezogen werden, was auch geschieht. Es müssen praktische, umsetzbare Vorschläge gemacht werden, um die nationalen Rechtssysteme einander anzunähern, ohne dabei eine schlichte Vereinheitlichung des Rechts durchzuführen.
Das Zivilrecht spielt eine maßgebende Rolle: Durch das Individuum, die Familie und die Verpflichtungen strukturiert es die Beziehungen zwischen den Menschen und trägt dazu bei, die Identität einer Gesellschaft zu prägen. Im Laufe der Jahrhunderte hat jedes europäische Land sein eigenes Zivilrecht entwickelt, das die jeweilige Kultur des Landes widerspiegelt.
Aber die einzelnen europäischen Rechtssysteme sind sich auch in manchen Bereichen sehr ähnlich. Die Menschenrechte, die aus den vom Europarat verabschiedeten Instrumenten hervorgehen und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschützt werden, bilden die Grundlage einer gemeinsamen öffentlichen Ordnung innerhalb der 46 Mitgliedsländer. Sie spielen eine Rolle, wenn europäische Rechtsexperten gesetzliche Rahmen festlegen und sind bei den Überlegungen und in der Praxis der Experten immer gegenwärtig.
Der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte achten die Rechtskultur eines jeden Landes und wollen keine Vereinheitlichung des Rechts.
Sie legen Grundstandards fest, überlassen es aber den Regierungen, die Modalitäten dafür festzulegen, wie sie diese Standards in ihr innerstaatliches Recht aufnehmen. An dieser Stelle muss betont werden, dass diese Standards wandlungsfähig sind, da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kein starres Instrument ist.
Der Europarat, der Gerichtshof und seine Mitgliedsstaaten sind auch an der Schaffung des Rechtsraumes der Europäischen Union beteiligt. Die Tatsache, dass wir eine immer weiterreichende Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung erreicht haben, ist auch deren wertvoller Arbeit während der letzten Jahrzehnte zu verdanken. Sie tragen jeden Tag aufs Neue dazu bei, unter den Vertragsstaaten der Konvention ein Klima des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Ich möchte die Gelegenheit heute ergreifen und den Frauen und Männern, die für diese Organisationen arbeiten, danken. Sie leisten ihren Bewitrag zum unermüdlichen Streben nach wahrer Demokratie und einem verbesserten Justizwesen für die Bürger Europas. In diesem Zusammenhang wird die von der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz begonnene Diskussion über die Qualität der Justiz von entscheidender Bedeutung sein.
Unsere Arbeit in der Europäischen Union ist von dem Bemühen geprägt, das tägliche Leben unserer Mitbürger zu erleichtern, die wirtschaftliche Entwicklung zu begünstigen und Mittel zu finden, mit denen die schlimmsten Verbrechensarten bekämpft werden können. Deswegen ist eine Harmonisierung manchmal notwendig, vor allem im Bereich des Verfahrensrechts.
Da zum Beispiel die Trennung eines Paares, bei dem die Partner aus unterschiedlichen Ländern kommen, zu schmerzhaften Erfahrungen führte, haben wir uns, um dem Abhilfe zu schaffen, dazu entschlossen, aufeinander abgestimmte Rechtsinstrumente einzuführen. Die Brüssel IIa Verordnung legt jetzt die Vorschriften über die Zuständigkeit für Entscheidungen und deren Anerkennung und Vollstreckung fest, wobei es keinen Unterschied mehr macht, ob es sich um eheliche oder nichteheliche Kinder handelt oder ob die Eltern verheiratet oder geschieden sind. Wesentliches Ziel der Verordnung ist es, die Kinder vor rechtswidrigen Handlungen der Eltern zu schützen.
Wir halten das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen auf anderen Gebieten für noch wirksamer. Es beinhaltet, dass ein Mitgliedsstaat die Wirkungen der Gerichtsentscheidungen eines anderen Mitgliedsstaates anerkennt und diese Entscheidungen vollstreckt. Die Einführung des europäischen Haftbefehls ist das deutlichste Beispiel dafür.
Wir arbeiten an noch tiefergreifenden gemeinsamen Regelungen. Meine deutsche Kollegin Brigitte Zypries und ich sind dabei, ein europäisches Strafregister zu schaffen; unsere spanischen Kollegen haben sich uns angeschlossen. Im Bereich des Zivilrechts diskutieren unsere Gesetzgeber gegenwärtig über die Reform des Betreuungsrechts. Diese Zusammenarbeit sollte es uns ermöglichen, wenn auch keine identischen Texte so doch Texte mit kompatiblen Vorschriften, zu erarbeiten.
Unser Recht, vor allem unser Zivilrecht entwickelt sich durch Einflüsse von außen weiter. Die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat weitreichenden Einfluss auf unser Justizsystem und unser Zivilrecht.
Das liegt daran, dass die französischen Richter die Interpretationsmethoden des Gerichtshofes langsam übernommen haben und nun über eine bessere Kenntnis seiner Rechtssprechung verfügen. Die Obersten Gerichtshöfe der Mitgliedsstaaten haben bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt. Dies zeugt von einer internationalen Vision des Rechts. Der vorrangige Platz des Straßburger Gerichtshofs unter den Quellen der Rechtssprechung erscheint uns heute natürlich.
Dank des Einflusses der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte wurden Bestimmungen, die eine Verletzung der Konvention mit sich brachten und aufgrund derer der Gerichtshof gezwungen war, gegen Frankreich zu urteilen, mit der Menschenrechtskonvention in Einklang gebracht. Dabei geht es häufiger um das Verfahren als um Rechtsinhalte.
Es mussten auch einige Bestimmungen des Code Civil geändert werden, um die Gleichheit der Rechte für eheliche, nichteheliche und außereheliche Kinder zu gewährleisten. Dies ist ein Beispiel dafür, dass der Gerichtshof, wenn es um die Grundprinzipien geht, zu einer allmählichen Übereinstimmung beiträgt. Seit dem Marckx Urteil von 1979 haben sich die Meinungen geändert und die Änderungen, die im Hinblick auf außereheliche Kinder vorgenommen wurden, lösten keine Kontroversen mehr aus.
Im Übrigen hat uns der Anstoß des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geholfen, unser Erbrecht zugunsten des überlebenden Ehegatten zu reformieren.
Weitere Änderungen sind in unserem Zivilrecht vorgenommen worden, um den höheren Standards für Schutz in der Rechtssprechung des Gerichtshofs Rechnung zu tragen. Dies ist der Fall in der Gesetzgebung über den Familiennamen und beim Gesetz über den Zugang einer Person zu ihrer Herkunft. Das durch den Straßburger Gerichtshof geschaffene Rechtssystem beeinflusst sowohl Parlamente als auch Richter.
Der Europarat und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte haben großen Einfluss auf unseren Code Civil, umgekehrt findet die Modernität unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs beim Europarat und der Konvention ebenfalls Anklang.
Das Prinzip der Kodifizierung, das unser Code Civil früher symbolisierte, ist eines der Instrumente, das der Europarat vorschlägt, wenn Staaten sein juristisches Fachwissen fordern.
Nach dem Fall der Berliner Mauer, hat der Europarat den osteuropäischen Ländern, die eine Gesetzgebung, die mit europäischen demokratischen Standards kompatibel ist, annehmen wollten, seine Unterstützung angeboten. Dabei hat er sich weder für das englische Common Law, noch für das geschriebene Recht ausgesprochen. Dennoch haben sich diese Länder für die Kodifizierung entschieden. Diese Wahl erklärt sich dadurch, dass die Kodifizierungsstrategie durch Organisation und hierarchische Struktur der Rechtsnormen geprägt ist. Ich freue mich, dass heute hoch angesehene Vertreter der osteuropäischen Länder hier anwesend sind, um ihre Erfahrungen mit uns zu teilen.
Bei einigen Gelegenheiten hat die Rechtssprechung des Gerichtshofs auch die Prinzipien der Klarheit und Zugänglichkeit der Rechtsnormen bestätigt, die der Code Civil während der vergangenen zwei Jahrhunderte auf überzeugende Weise deutlich gemacht hat.
In einer Welt, in der es immer mehr Rechtsnormen gibt und in der die nationalen und supranationalen Rechtssysteme immer mehr miteinander verflochten sind, ist es wichtig, dass sich die Parlamente von solchen Prinzipien leiten lassen und dass durch diese Prinzipien die Rechtssicherheit gewährleistet werden kann.
Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen bei
Ihrer Arbeit allen erdenklichen Erfolg.