http://www.welt.de/data/2004/10/20/348529.html?prx=1

Souveränes Grundgesetz

Kommentar
von Matthias Kamann

Der Türke Kazim Görgülü und sein unehelicher Sohn Christofer dürften berühmt werden. Denn ihr Fall ist von großer nationaler und europapolitischer Bedeutung. Am konkreten juristischen Problem der beiden liegt das freilich nicht. Hierbei handelt es sich nur um eine dieser unerfreulichen, kaum durchschaubaren Sorgerechtsgeschichten, wo der Vater erst vier Monate nach der Geburt von der Existenz seines Sohnes erfährt, den die Mutter schon zur Adoption freigegeben hat; daraufhin klagt sich der Vater durch alle Instanzen, um das Sorgerecht über den Sohn, der mittlerweile in einer Pflegefamilie lebt, zu erhalten; der Vater scheitert vor allen Gerichten, bis ihm in Straßburg der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) recht gibt; mit dieser Entscheidung wandert der Vater zurück nach Deutschland, wird aber schließlich vom Oberlandesgericht (OLG) in Naumburg abermals abgewiesen; der Vater zieht weiter nach Karlsruhe, legt Verfassungsbeschwerde ein und bezichtigt die Naumburger Oberlandesrichter unter anderem, gegen das Völkerrecht verstoßen zu haben, weil sie das Straßburger Urteil des EGMR mißachtet hätten.
 

Und da wird es plötzlich hochbrisant: Denn gestern nun gab zwar das Bundesverfassungsgericht dem Vater in der Sache recht und forderte das OLG auf, den damaligen Straßburger Richterspruch bei einer neuerlichen Urteilsfindung zu berücksichtigen. Doch die Bundesverfassungsrichter nutzten die Gelegenheit, um Grundsätzliches zum Umgang mit Straßburger Urteilen festzustellen, und erklärten, daß sich deutsche Gerichte nicht sklavisch an Vorgaben des Menschengerichtshofs halten müßten. "Das Grundgesetz", so die Verfassungsrichter gestern in bemerkenswerter Deutlichkeit, "erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität." Deutsche Gerichte hätten zwar "zu beachten und anzuwenden", was die Europäische Menschenrechtskonvention vorschreibt und die Straßburger Richter beschließen, doch könne es keine "Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte" geben, die "jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle" entzogen seien. "Selbst die weitreichende supranationale europäische Integration, die sich für den aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich unmittelbar wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem, allerdings weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt."
 

Das sind große Worte, es sind im Grunde zu große Worte für so einen kleinen Sorgerechtsfall. Alles deutet darauf hin, daß die Karlsruher Richter ein Zeichen setzen wollten: In Zeiten, da über die EU-Verfassung diskutiert wird, verteidigen sie die Eigenständigkeit des rechtsstaatlich legitimierten und kontrollierten Grundgesetzes. In ihrem Urteil wird man zudem eine Klarstellung zum Straßburger "Caroline"-Urteil sehen müssen: Wenn das Bundesverfassungsgericht jetzt so deutlich die Souveränität des nationalen Rechts betont, dann ist dies als Hinweis zu verstehen, daß in Deutschland nicht automatisch umgesetzt werden muß, was Straßburg - und zwar gegen Karlsruhe - unlängst zu den Rechten der Journalisten entschieden hatte. Und ebenso: Wenn deutsche Vertriebene hoffen, mit Hilfe des europäischen Rechts Entschädigungen erstreiten zu können, wird ihnen aus Karlsruhe nun ein leichter Dämpfer verpaßt. Denn dem Grundgesetz, so die Karlsruher Richter, "liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, daß es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und daß die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann". Eine so vehemente und gewichtige Verteidigung nationaler Souveränität hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben.
 

Artikel erschienen am Mi, 20. Oktober 2004