Souveränes Grundgesetz
Kommentar
von Matthias Kamann
Der Türke Kazim Görgülü
und sein unehelicher Sohn Christofer dürften berühmt werden.
Denn ihr Fall ist von großer nationaler und europapolitischer Bedeutung.
Am konkreten juristischen Problem der beiden liegt das freilich nicht.
Hierbei handelt es sich nur um eine dieser unerfreulichen, kaum durchschaubaren
Sorgerechtsgeschichten, wo der Vater erst vier Monate nach der Geburt von
der Existenz seines Sohnes erfährt, den die Mutter schon zur Adoption
freigegeben hat; daraufhin klagt sich der Vater durch alle Instanzen, um
das Sorgerecht über den Sohn, der mittlerweile in einer Pflegefamilie
lebt, zu erhalten; der Vater scheitert vor allen Gerichten, bis ihm in
Straßburg der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) recht gibt;
mit dieser Entscheidung wandert der Vater zurück nach Deutschland,
wird aber schließlich vom Oberlandesgericht (OLG) in Naumburg abermals
abgewiesen; der Vater zieht weiter nach Karlsruhe, legt Verfassungsbeschwerde
ein und bezichtigt die Naumburger Oberlandesrichter unter anderem, gegen
das Völkerrecht verstoßen zu haben, weil sie das Straßburger
Urteil des EGMR mißachtet hätten.
Und da wird es plötzlich hochbrisant:
Denn gestern nun gab zwar das Bundesverfassungsgericht dem Vater in der
Sache recht und forderte das OLG auf, den damaligen Straßburger Richterspruch
bei einer neuerlichen Urteilsfindung zu berücksichtigen. Doch die
Bundesverfassungsrichter nutzten die Gelegenheit, um Grundsätzliches
zum Umgang mit Straßburger Urteilen festzustellen, und erklärten,
daß sich deutsche Gerichte nicht sklavisch an Vorgaben des Menschengerichtshofs
halten müßten. "Das Grundgesetz", so die Verfassungsrichter
gestern in bemerkenswerter Deutlichkeit, "erstrebt die Einfügung Deutschlands
in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet
aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende
Souveränität." Deutsche Gerichte hätten zwar "zu beachten
und anzuwenden", was die Europäische Menschenrechtskonvention vorschreibt
und die Straßburger Richter beschließen, doch könne es
keine "Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte" geben, die "jeder
verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle" entzogen seien. "Selbst
die weitreichende supranationale europäische Integration, die sich
für den aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich
unmittelbar wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem,
allerdings weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt."
Das sind große Worte, es sind im
Grunde zu große Worte für so einen kleinen Sorgerechtsfall.
Alles deutet darauf hin, daß die Karlsruher Richter ein Zeichen setzen
wollten: In Zeiten, da über die EU-Verfassung diskutiert wird, verteidigen
sie die Eigenständigkeit des rechtsstaatlich legitimierten und kontrollierten
Grundgesetzes. In ihrem Urteil wird man zudem eine Klarstellung zum Straßburger
"Caroline"-Urteil sehen müssen: Wenn das Bundesverfassungsgericht
jetzt so deutlich die Souveränität des nationalen Rechts betont,
dann ist dies als Hinweis zu verstehen, daß in Deutschland nicht
automatisch umgesetzt werden muß, was Straßburg - und zwar
gegen Karlsruhe - unlängst zu den Rechten der Journalisten entschieden
hatte. Und ebenso: Wenn deutsche Vertriebene hoffen, mit Hilfe des europäischen
Rechts Entschädigungen erstreiten zu können, wird ihnen aus Karlsruhe
nun ein leichter Dämpfer verpaßt. Denn dem Grundgesetz, so die
Karlsruher Richter, "liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde,
daß es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen
Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt
und daß die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen
Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann". Eine
so vehemente und gewichtige Verteidigung nationaler Souveränität
hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben.
Artikel erschienen am Mi, 20. Oktober 2004