Zum jugendpolitischen Stellenwert der UN-Kinderrechtskonvention
Kinderrechte im Dialog verwirklichen
von Hartmut Gerstein

Drei Jahre sind vergangen, seit die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) am 5. April 1992 in Deutschland in Kraft getreten ist1. Obwohl von offizieller Seite ständig die Bedeutung dieses internationalen Vertragswerks für die Versorgung, den Schutz und die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen betont wird, hat die Konvention in Deutschland bisher nur geringe Wirksamkeit entfaltet. Ein wichtiger Grund hierfür dürfte darin liegen, daß die Öffentlichkeit allgemein und Vertreter der Interessen von Kindern und Jugendlichen insbesondere erst langsam begonnen haben, die KRK für sich zu entdecken.

Kinderrechte nur auf dem Papier ?

Wegen ihrer spröden Gesetzessprache, den meist offenen und weichen Formulierungen und ihres weltweiten Geltungsbereichs ist es schwer, aus der KRK konkrete Handlungsschritte für die Umsetzung in Deutschland abzuleiten. Hinzu kommt, daß die Bundesregierung bei der Verabschiedung Interpretations- und Vorbehaltserklärungen ausgerechnet für jene Bereiche formuliert hat, in denen das bestehende Recht in Deutschland offensichtlich den Forderungen der Konvention nicht entspricht. Es kann daher nicht überraschen, daß die Bundesregierung in ihrem über 100 Seiten starken Bericht an die Vereinten Nationen über die Verwirklichung der in dem Übereinkommen anerkannten Kinderrechte vom August 19942 zu dem Ergebnis kommt, daß die KRK in Deutschland weitgehend verwirklicht ist. Würde man dem jedoch folgen, gäbe es für die Umsetzung der KRK in Deutschland keinen Handlungsbedarf.

Jenseits der juristischen Diskussion über die Wirksamkeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit der in der KRK niedergelegten Kinderrechte bietet der Konventionstext jedoch die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, eines permanenten öffentlichen (kinder- und jugendpolitischen) Diskurses über die Verwirklichung der Kinderrechte, bei dem den Jugendverbänden eine zentrale Rolle zukommt.

Stellenwert der KRK

Die KRK formuliert als bisher einziges umfassendes internationales Vertragswerk von weltweiter Bedeutung ausschließlich Rechts- und Schutzansprüche von Kindern und Jugendlichen bis zur Erreichung der Volljährigkeit. Neben dem klassischen Bereich des Jugendschutzes sind Rechte auf Versorgung und Förderung sowie Beteiligungsrechte aufgenommen worden. Vorrangiger Leit- und Verhaltensmaßstab - sowohl für behördliche Maßnahmen sowie öffentliche und private Fürsorgemaßnahmen, als auch im Hinblick auf die für Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlichen Personen - ist das Kinderinteresse. Die KRK ist von ihrer Konzeption her keine Zustandsbeschreibung, sondern zielt auf Veränderung. Die Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte verlangt eine Neukonzeption der Rechtsordnung in fast allen Unterzeichnerstaaten und die Einbeziehung von Kinderinteressen in nahezu alle Politikbereiche. Ein neues Denken „Vom Kinde her" ist gefordert, um die Versprechen aus den Konventionen einzulösen.

Informationen zum Inhalt der Konvention

Die KRK legt ausdrücklich fest, daß die Vertragsstaaten die Grundsätze und Bestimmungen des Übereinkommens durch geeignete und wirksame Maßnahmen bei Erwachsenen und auch bei Kindern allgemein bekannt machen. Über die sonst bei Gesetzen üblichen Veröffentlichungspflichten hinaus wird hier besonderer Wert darauf gelegt, daß die Information über die Kinderrechte die Empfänger tatsächlich erreicht. Dabei ist das Medium nicht festgelegt. Ob mit Text, Comic, Film oder Computerprogramm, entscheidend ist, daß die Maßnahmen geeignet und wirksam sind, Erwachsene und Kinder mit den Kinderrechten der UN-Konvention vertraut zu machen. Diese Informationen sind Voraussetzung dafür, daß Kinder und Jugendliche ihr in Artikel 12 KRK verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben können und die Verwirklichung ihrer Rechte selber einfordern und kontrollieren können.

Rechenschaftspflicht der Unterzeichnerstaaten

Artikel 44 KRK verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, dem von der UNO eingerichteten Ausschuß für die Rechte des Kindes regelmäßig Berichte über die von ihnen getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der Rechte des Kindes und die dabei erzielten Fortschritte vorzulegen. Der Erstbericht ist innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Konvention zu erstatten, die darauffolgenden Berichte sind alle fünf Jahre fällig. Die Berichterstattung soll zugleich die Diskussion über die Einhaltung bzw. Verwirklichung der Rechte des Kindes anregen und in Gang halten. Artikel 44 Abs. 6 KRK ruft die Vertragsstaaten ausdrücklich dazu auf, im eigenen Land für eine weite Verbreitung des Berichtes zu sorgen. Dies ist von der Bundesregierung bei ihrem Erstbericht3 schlicht versäumt worden. Schon äußerlich bietet der Bericht ein klägliches Bild. Auch die Pressearbeit war dürftig: lediglich in einer kleinen Pressenotiz machte das zuständige Ministerium auf das Erscheinen des Berichts aufmerksam.

April 1992 Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland
April 1994 Erstbericht nach 2 Jahren
April 1999 erster Folgebericht nach 5 Jahren
April 2004 zweiter Folgebericht nach 5 Jahren
Anmerkung von Väter aktuell

Nichtregierungsorganisationen bilden National Coalition

Bereits bei der Vorbereitung des Erstberichts wurde deutlich, daß Hinweise auf Schwierigkeiten der Umsetzung der Kinderrechte von Regierungsseite nicht zu erwarten waren. Der Ende 1993 den beteiligten Verbänden zugeleitete „Teil-Rohentwurf" befaßte sich im wesentlichen mit der Darstellung von Rechtsvorschriften. Eine Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit und eine Darstellung von Schwierigkeiten und Defiziten fehlte. Inzwischen hatte sich auf Initiative von Sven Borsche (AWO-Bundesverband) eine „Initiativgruppe" von Vertreterinnen und Vertretern zumeist nichtstaatlicher Organisationen und Verbänden gebildet, die aus kinderpolitischer und kinderrechtlicher Sicht Kriterien für den von der Bundesrepublik Deutschland vorzulegenden Erstbericht erarbeitete. Anregungen, die kinder- und jugendpolitischen Verbände unmittelbar an der Erstellung des Erstbericht zu beteiligen, scheiterten4.Die Initiativgruppe schloß sich Ende 1994 als Koordinierungsgruppe für eine National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland zusammen. Die organisatorischen Rahmenbedingungen wurden von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) bereitgestellt.

Die Koordinierungsgruppe, der Vertreterinnen und Vertreter von Kinder- und Jugendorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, Fachverbänden und Kinderbeauftragte angehören, sollte die organisatorischen Voraussetzungen für den Zusammenschluß möglichst vieler Verbände in eine National Coalition schaffen und in einer gemeinsamen Stellungnahme zusätzliche Informationen zum Erstbericht der Bundesregierung sowie Empfehlungen an den UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes liefern. Damit sich der Ausschuß ein vollständiges Bild über die Umsetzung der KRK in dem jeweiligen Staat machen kann, wurde ihm ausdrücklich im Konventionstext (Artikel 45 Buchstabe a) die Möglichkeit eröffnet, bei Nichtregierungsorganisationen des jeweiligen Berichtslandes Stellungnahmen einzuholen. Auf internationaler Ebene hatte sich daher eine „International Coalition" von 36 Organisationen gebildet, die die internationale Kinderrechtslobby koordiniert. In Anlehnung an dieses Beispiel wurde auch in Deutschland der international geläufige Begriff „National Coalition" übernommen.

National Coalition als Lobby für Kinder und Jugendliche

Die National Coalition hat die Aufgabe, auf nationaler und internationaler Ebene die Verwirklichung der Kinderrechte zu beobachten und zu kontrollieren. Zusammen mit dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes sorgt sie dafür, daß die Diskussionen mit den Regierungen der Unterzeichnerstaaten öffentlich geführt werden. Zur Jahreswende 1994/1995 erarbeitete die Koordinierungsgruppe der National Coalition mit Unterstützung zahlreicher anderer Organisationen und Verbänden eine gemeinsame Stellungnahme zum Erstbericht der Bundesregierung.5 Diese wurde dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes im März 1995 zugeleitet. Zur Vorbereitung für die Beratung des deutschen Erstberichts wurden Vertreter der National Coalition Mitte Juni 1995 nach Genf gebeten, wo sie ihre Argumente und Forderungen erläutern konnten und den Mitgliedern des Ausschusses wichtige Hinweise für die Diskussion mit der Bundesregierung geben konnten. Im weiteren Verlauf wird der Ausschuß der Bundesregierung die Punkte benennen, zu denen er zusätzliche Erläuterungen erwartet und im Herbst 1995 Regierungsvertreter zu einer Sitzung einladen, in der der deutsche Erstbericht behandelt wird. Die Sitzung ist öffentlich. Der Ausschuß erwartet von den Regierungen, daß sie hochrangige Vertreter schicken. Mit „abschließenden Bemerkungen", die vom Ausschuß veröffentlicht werden, faßt dieser sodann die Ergebnisse seiner Verhandlungen zusammen. Hiermit wird ein weiterer Impuls für die Diskussion über die Verwirklichung der Kinderrechte gegeben, der von der National Coalition aufgegriffen und weiterentwickelt werden sollte.

Spätestens in dem nach fünf Jahren fälligen Folgebericht wird darüber Rechenschaft abzulegen sein, ob und wie die Empfehlungen umgesetzt worden sind.

Aufgaben der Kinder- und Jugendverbände

Die Kinderrechte müssen vorrangig von denen eingefordert werden, deren Interessen unmittelbar tangiert sind. Konkret sind dabei Organisationen angesprochen, in denen Kinder und Jugendliche zusammengeschlossen sind oder die von ihrer Zielrichtung her Interessen von Kindern und Jugendlichen vertreten. Jugendverbände sind besonders sensibel, wenn es um die Verletzung der Rechte von Kindern geht. Sie sind es auch, die nach ihrem Selbstverständnis dafür stehen, diese Rechte einzufordern. Entsprechend ihrem Auftrag sind darüber hinaus auch die Wohlfahrtsverbände aufgerufen, für die sozialen Rechte von Kindern einzustehen. Zur „geborenen Kinderrechtslobby" zählen auch die Eltern- und Familienverbände, die aus der Verpflichtung nach Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz Rechte für Kinder einfordern. Hinzu treten zahlreiche Fachorganisationen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Berufsverbände und Interessengruppen, die sich mit der Situation von Kindern und mit Fragen der Zukunftsgestaltung beschäftigen und aus dieser Befassung Interesse daran haben, daß Rechte von Kindern vorrangig berücksichtigt werden. Die National Coalition koordiniert diese Gruppen und bietet ein Forum für das gemeinsame öffentlich geführte Gespräch über den Stand der Umsetzung der einzelnen Rechte. Die Kinderrechte können jedoch nicht ausschließlich vom Staat eingefordert werden, sondern müssen ebenso in nichtstaatlichen Organisationen durchgesetzt und im täglichen Umgang mit Kindern gelebt werden. So müssen sich auch die Jugendverbände der Frage stellen, ob sie in ihrem Strukturen z.B. den Rechten von Kindern und Jugendlichen auf Partizipation genügend Raum geben. Aus kinderpolitischer Sicht geht es nicht nur darum, die Kinderrechte in den Gesetzen zu verwirklichen, sie müssen auch in der sozialen Wirklichkeit zur Geltung kommen.

Die National Coalition hat die Funktion, den gegenseitigen Informationsaustausch zu verbessern, Diskussionen anzuregen, Meinungen zu bündeln und zu artikulieren und neue Formen des Dialogs mit und über Kinder zu versuchen. Die Jugendverbände sollten die Chancen nutzen, die sich für sie in dieser „konzertierten Aktion für Kinderrechte" bieten.

Anmerkungen:

1 Eine Broschüre mit dem Text des Übereinkommens sowie dem Ratifikationsgesetz und der Bekanntmachung über das Inkrafttreten kann kostenlos angefordert werden bei: AJS-Landesstelle Nordrhein-Westfalen, Hohenzollernring 85-87, 50672 Köln, Fax: 0221/95153818

2 Der „Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Vereinten Nationen gemäß Art.44 Abs.1a des Übereinkommens über die Rechte des Kindes" kann kostenlos angefordert werden beim: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Rochusstr. 8-10, 53123 Bonn

3 Siehe oben Fußnote 2

4 Vgl. Marquard, Übereinkommen über die Rechte des Kindes, FORUM Jugendhilfe 4/94, S. 43

5 Der vollständige Text ist abgedruckt in FORUM-Jugendhilfe 2/95, Sonderdruck S. II-IX

Hartmut Gerstein ist Referent für Rechts- und Organisationsfragen in der Jugendhilfe bei der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe.