Sich stark machen für Kinderrechte

Bericht über das Zweite Offene Forum der National Coalition am 31. Mai 1996 in Leipzig

Beate Schmidt-Behlau

Zur Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am zweiten offenen Forum, das im Rahmen des 10. DJHT als Fachveranstaltung im Themenbereich Partizipation durchgeführt wurde, betonte NC-Sprecher Sven Borsche, daß die Verwirklichung des Mottos „Jugend Macht Zukunft" voraussetze, daß Jugend überhaupt in die Lager versetzt werde, Zukunft zu machen: Dazu müssen ihr die Teilhabe an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zugestanden werden, was neben den Bereichen Vorsorge und Schutz auch in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) gefordert sei. Die National Coalition trete jetzt in ihre zweite Phase ein, in der es um die konkrete Umsetzung der Konvention gehe. Dazu müsse man jetzt gezielt ermitteln:


Als internationale Gastrednerin hielt Bilge Bassani, stellvertretende Europa-Direktorin von UNICEF, eine Eröffnungsrede über die bedeutende Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NRO) bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Ihre Bedeutung werden im Artikel 45 der UN-KRK besonders hervorgehoben, in dem NRO als sachkundige Partner bei der Umsetzung der KRK geschätzt und ihre Meinung zu verschiedenen Themenbereichen berücksichtigt werden solle. Als internationales Vertragswerk sei die UN-KRK zudem auf die Kooperation verschiedener Partner angewiesen, und NRO sollen, so Bilge Bassani, diesbezüglich eine Führungsrolle übernehmen. Die deutsche National Coalition sei ein eindrucksvolles Beispiel für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von NRO auf nationaler und internationaler Ebene.

Sie hob anschließend einige Bereiche hervor, die von dem zuständigen UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes im Gespräch mit der Bundesregierung in Genf als relevant für den Umsetzungsprozeß in der Bundesrepublik erachtet worden waren, wie z.B.


Mit der Bildung der National Coalition in Deutschland sei ein guter Anfang gemacht, um verschiedene Aktivitäten zur Umsetzung der KRK zu bündeln und voranzutreiben. Ein weiteres positives Beispiel könne sie sich in der Einrichtung eines Bundeskinderbeauftragten vorstellen. Dazu lägen aus anderen Ländern schon gute Erfahrungen vor. Zum Abschluß ihrer Rede würdigte Frau Bassani den Einsatz der Bundesrepublik Deutschland auf internationaler Ebene, z.B. auf dem Gebiet der Bemühungen gegen die Kinderarbeit in anderen Ländern, für den Schutz besonders bedürftiger Kinder und gegen sexuelle Ausbeutung und den Mißbrauch von Kindern.

Sie wies darauf hin, daß UNICEF erst kürzlich die KRK als Leitlinie für die weitere Arbeit des UN-Kinderhilfswerkes neu bestimmt habe, mit dem Ziel Kinderrechte als beständiges ethisches Prinzip und als internationalen Standard des Verhaltens gegenüber Kindern einzurichten.

Im darauffolgenden Beitrag von Prof. Hubertus Lauer von der Fachhochschule Nordost-Niedersachsen in Lüneburg wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention umrissen. Aus seiner Sicht seien folgende Punkte von Interesse für die anstehende Diskussion:

1. die Frage inwieweit die internationale Konvention eine verbindliche rechtliche Wirkung für die BRD habe. Bisher gebe es noch keine „nationale Diskussion" über die UN-Kinderrechtskonvention. Es gehe um die Ernsthaftigkeit, mit der die Bundesregierung die Umsetzung betreibe, und die sei nach seinem Ermessen bisher gering ausgeprägt. Die Unterzeichner der Konvention hätten sich aber dazu verpflichtet aus internationalem Recht geltendes nationales Recht zu machen.

2. Die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik müsse auf den Prüfstand gestellt werden. In der herrschenden Verfassung stünden den Kindern zwar die gleichen Rechte wie Erwachsenen zu, die Behandlung von Kindern sei in der Praxis jedoch nicht nach diesen Prinzipien ausgerichtet und es gäbe immer wieder Versuche, Kinder als nicht grundrechtsmündig „auszubremsen".

Zudem gehe es im Anblick statistisch nachweisbarer zunehmender gesundheitlicher Schädigungen von Kindern nicht mehr nur darum, die Grundversorgung von Kindern durch ihre Eltern abzusichern, sondern auch darum, daß Kinder in eine Zukunft hineinwachsen, die eine Zukunft überhaupt möglich macht. Dieses setze z.B. voraus, auch im Hinblick auf die Sicherung ökologischer Grundrechte von Kindern, die Verfassungsdiskussion mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention erneut aufzunehmen.

3. Auf der Ebene der nationalen Gesetze bestehe erheblicher Handlungsbedarf. Die Aufhebung der rechtlich unterschiedlichen Behandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern sei ein uralter Auftrag, der immer noch nicht eingelöst sei. In Bezug auf Artikel 7 UN-KRK, der das Recht des Kindes auf beide Elternteile garantiere, stehe überhaupt nichts im deutschen Familienrecht. Kindern würden die ihnen ureigenen zustehenden Rechte nicht zugestanden. In dieser Hinsicht sei es ein „rechtspolitischer Skandal", daß der „Züchtigungsparagraph" im Familienrecht immer noch nicht geändert sei.

Eine erst vor kurzem durchgeführte repräsentative Studie bei jungen Menschen in Bielefeld habe das Ergebnis gebracht, daß das Bewußtsein des Gesetzgebers dem verfassungsrechtlichen Bewußtseinsstand der Bevölkerung weit hinterherhinke. Er plädierte dafür, mutiger zu sein als bisher und die Scheu davor, Kindern die gleichen rechtlichen Chancen zu geben wie Erwachsenen, abzubauen. Die BRD solle sich nicht damit begnügen, den Geist der Konvention zu erfüllen, sondern in der Umsetzung der KRK eine Vorreiterrolle übernehmen und für wegweisende rechtliche Normen sorgen. Für ihn habe die KRK eine „Leuchtfeuerfunktion".

Im Anschluß an Prof. Lauer steckte Dr. Edith Niehuis, Vorsitzende des Bundestagsausschußes für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, in ihrem Beitrag die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Umsetzung der UN-KRK ab. Konventionen machten nur dann einen Sinn, wenn sie sich auch auf Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen auswirkten. Dazu gehöre, daß die Kinderrechtskonvention zum „täglichen politischen Gesprächsstoff" werde und daß die kritischen Anmerkungen des UN-Ausschusses in Genf bekannt gemacht werden.

In der Diskussion sollte nicht nur das Kindeswohl, sondern auch Kinderinteressen aufgenommen werden. Leider seien ihre andauernden Bemühungen darum, Kinder als Subjekte in verschiedene Diskussionen auch im Bundestag einzubringen, bisher an den bestehenden Mehrheiten gescheitert. Dabei sei es völlig klar daß eine verfehlte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Kinder und Jugendliche besonders schwer treffe und das Steigen der Ausgaben im sozialen Bereich die Ausgaben für den Jugendbereich einschränkten. Die Gesundheitsvorsorge sei nicht nur ein Thema für Entwicklungsländer, sondern müsse auch in Industrieländern ernst genommen werden.

Wolfgang Schmitz, Programmleiter des Bereichs Familie und Gesellschaft, moderierte die sich anschließende Diskussion, in der zunächst der Vertreter der Bundesregierung, Dr. Reinhard Wabnitz vom zuständigen Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Erläuterungen aus Sicht der Bundesregierung gab. Bezugnehmend auf die Aussagen von Prof. Lauer bestätigte er, daß die Begriff des „Leuchtfeuers" die Bedeutung der Konvention sehr gut treffe, daß sich nach seinen Beobachtungen die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen als eigenständige Rechtsträger verstärkt habe, daß man erst am Anfang einer Entwicklung stehe und „einen langen Atem" haben müsse. Die Bundesregierung habe den ersten Staatenbericht an den zuständigen UN-Ausschuß bewußt auf die rechtlichen Aspekte beschränkt, aber gleichzeitig auf den 10. Jugendbericht, der sich mit der tatsächlichen Situation von Kindern und Jugendlichen befasse, hingewiesen. In Genf wäre dies aber durchaus Gegenstand der Diskussion gewesen und in den „abschließenden Beobachtungen" habe man sich nicht nur kritisch, sondern auch sehr lobend über die Bundesregierung geäußert.

Nach Meinung des UN-Ausschusses habe die BRD in verschiedenen Bereichen Vorbildcharakter bewiesen, in anderen sei sie bereit, dazuzulernen.

Dr. Wabnitz führte im folgenden exemplarisch einige Aktivitäten auf, in denen die Bundesregierung seit Genf tätig geworden sei:


Grundsätzlich habe er den Eindruck, daß „Vieles im Fluß" sei. Er sehe sich mit den meisten Punkten seiner Vorrednerinnen und Vorredner im Konsens. Dissens bestehe ehe im Detail und in der Frage, wieviel in welchem Zeitraum umgesetzt werden könne. Er sehe die Lage auch so, daß in der Gesamtdebatte ein Perspektivwechsel gefordert sei, der das Kind in den Mittelpunkt stelle. Da wir eine „kinderentwöhnte" Gesellschaft hätten, sei die Gesamtperspektive vom Kind aus wichtig.

Johannes Singhammer, Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages fügte hinzu, daß ein Problem darin bestehen könne, daß es nur noch 12 Millionen Kinder mit abnehmender Tendenz in Deutschland gebe. Er befürworte, daß man auch allen Ebenen eine Offensive der Kinderfreundlichkeit starte.

Sven Borsche erinnerte daran, daß ein langes Hinziehen bei der Umsetzung verschiedener Reformen, der Bewußtseinsschaffung bei der Bevölkerung nicht gerade dienlich und daß das reine Operieren mit Zahlen ohne Angabe der Relationen nicht sehr aussagekräftig sei. Somit sei es nicht möglich, zu beurteilen, ob die von Dr. Wabnitz angeführten 7 Milliarden DM für den Familienlastenausgleich ausreichend seien, denn die Familien hätten in der gleichen Zeit andere finanzielle Belastungen gehabt, die einen Ausgleich erforderlich gemacht hätten.

Eine weitere Frage galt der „Einmischung" des Jugendministeriums in andere Politikbereiche, da das Verständnis der Umsetzung der Kinderrechte impliziere, daß man diese Aufgabe als Querschnittsaufgabe betrachte.

Dr. Wabnitz bestätigte, daß auch das Ministerium seine Aufgabe als Querschnittsaufgabe wahrnehme und mit unterschiedlichen Ministerien Gespräche führe, die nicht immer zur Zufriedenheit des Ministeriums ausgingen.

Auf Anfragen bezüglich der Entwicklung eines Konkreten Aktionsplanes zur Umsetzung der UN-KRK reagierte Dr. Wabnitz eher ablehnend. Im Zuge der Sparauflagen sei er heilfroh, daß es das KJHG bereits gäbe und daß dieses selber nicht im Mittelpunkt von Sparmaßnahmen stehe. Man solle sich deshalb in seinen Aktionen auf den Kernbestand konzentrieren und nicht neue Dinge fordern, die dann zeitlich und finanziell doch nicht einzuhalten seien.

Befragt nach den bei der Ratifizierung vorgelegten Vorbehaltserklärungen der Bundesregierung, insbesondere im Hinblick auf die Situation der Flüchtlingskinder, stellte Dr. Wabnitz fest, daß er die in typisch deutscher Manier erbrachte buchhalterische Auflistung für nicht sehr glücklich halte und daß er in diesem Punkt durchaus noch Diskussionsbedarf sehe.

Im Anschluß an das Offene Forum fand die Mitgliederversammlung der National Coalition statt. Sie verabschiedete anläßlich der Bestätigung des „Asylkompromisses" durch das Bundesverfassungsgericht am 14. Mai 1996 eine Resolution zur Situation von Flüchtlingskindern, deren Text im folgenden wiedergegeben wird.