Süddeutschen Zeitung, 38/1996

Kindschaftsrecht und Völkerrecht

"Grenzenlose Brutalität"
Deutschland Schlußlicht im europäischen Vergleich

Von Christine Brinck

Was haben die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention mit uns zu tun? Die Antwort ist einfach: Der Bundestag hat sie ratifiziert, und so sind sie Teil unseres innerstaatlichen Rechts geworden. Welche Auswirkungen haben sie auf unsere Rechtspraxis nach Trennung und Scheidung? Diese Frage stand kürzlich im Mittelpunkt einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing unter dem Titel "Kinder im Recht - Kindschaftsrecht und Völkerrecht im europäischen Kontext".

Schon allein die Frage ärgert so manchen deutschen Richter, der nach der Devise vorgeht: "Hier in Deutschland gilt deutsches Recht - basta." Um so bemerkenswerter sind deshalb Urteile aus jüngster Zeit, vor allem des Amtsgerichts Kamen welche die gemeinsame Sorge sogar unverheirateten Eltern zugesprochen, also sich vom BGB abgewandt und auf die Europäischen Menschenrechtskonvention berufen (EMRK) berufen haben. Das ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß das gemeinsame Sorgerecht selbst für ehemals Verheiratete nur zögernd gewährt wird.

Daß ein Kind ein Recht auf beide Elternteile hat, die Grundmaxime der UN-Kinderrechtskonvention geht meist unter in den Scheidungswirren. Fast automatisch wird noch immer der Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen, häufig genug auch dann, wenn der Vater sich schwer ins Zeug legt, weiterhin am Leben seines Kindes teilzunehmen. "Die Brutalität (der Gerichte) zu den Vätern ist grenzenlos", kommentierte die SPD-Politikerin und frühere Richterin Margot von Renesse die Praxis vieler Kollegen. "Und sie ist am Ende eine Brutalität zu Müttern und Kindern", weil das Kind einem Elternteil und so den Kontakt zu ihm verliere.

Der Tenor in Tutzing war eindeutig: pro Völkerrechtskonventionen, pro Kind - auf das es endlich einen Subjektstatus in der Rechtsprechung erhalte und nicht mehr Verschiebegut zwischen den Eltern bleibe. Freilich wiesen die anwesenden Völkerrechtler auf den Skandal hin, daß viele Familienrichter keine Ahnung vom Völkerrecht hätten. Wer wie entscheidet, hängt allzu häufig vom Gerichtsort ab. Im Landkreis Unterallgäu wird immerhin in 35 Prozent der Fälle das gemeinsame Sorgerecht ausgesprochen, doch im benachbarten Oberallgäu liegt die Quote nur bei fünf Prozent. In München, so wird gelästert, hänge ein solches Urteil gar vom Anfangsbuchstaben des Familiennamens ab.

Das deutsche Alles-oder-Nichts-Prinzip - Mutter kriegt das Kind, Vater zahlt - ist mit dem Völkerrecht nicht in Einklang zu bringen. Sanktionen gegen den Sorgeberechtigten, der das Umgangsrecht behindert, sind so selten wie Schnee im Mai. Nur den nichtzahlenden Vater zu bestrafen (etwa durch Pfändung des Gehalts), erschien den meisten Diskutanten unbillig. Der Leipziger Familienrichter Professor Thomas Rauscher grollte: "Eine Mutter, die sich versagt, wenn der Vater über die Schule des gemeinsamen Kindes mitentscheiden wolle, ist ein klarer Fall für BGB § 1666 (Aufhebung des Sorgerechts)." Leider hören Väter das selten, die vergeblich versuchen, zu Elternabenden zugelassen zu werden.

Beschwerde einlegen

 Bahnt sich im Zuge der Kindschaftsrechtsreform ein Umdenken der Juristen an? Am neuen Entwurf hat noch kein Völkerrechtler mitgearbeitet, wenn auch die frühere Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger einräumte, "Impulse aus dem Völkerrecht" aufgenommen zu haben. Die Völkerrechtler in Tutzing haben aber deutlich gemacht, daß das Völkerrecht nicht nur ein Strohhalm für jene Väter sein darf, die um das Sorgerecht kämpfen und vor deutschen Gerichten trotzdem unterliegen. So empfahl Professor Alfred de Zayas vom Menschenrechtszentrum in Genf den Vätern, denen das Sorgerecht verweigert wird, in Genf eine Individualbeschwerde gegen so ein Urteil einzulegen.

Grundsätzlich empfahlen die Völkerrechtler den Blick über den nationalen Zaun: Wie gehen die anderen mit dem Problem um? Der Heidelberger Völkerrechtler Erik Jaymes verwies auf die Norweger. Die hätten per Gesetz verfügt, "daß der Kontakt zu beiden Eltern ein zentrales und selbständiges Moment bei der Abwägung in einem Streit um die Übertragung der elterlichen Sorge ist." Ähnlich Professor Kurt Ebert aus Insbruck: Er verwies auf die französische Neufassung des Kindesrechts von 1993, die unter dem Motto "responsabliser les parents" stehe - "die Eltern unter Verantwortungsdruck" setzen. "Wir müssen die Eltern also in ihre Pflicht nehmen", mahnte er. Dem mochte niemand widersprechen. Ebenfalls wollte niemand darüber streiten, daß den Richtern und Jugendämtern ein gerütteltes Maß an Verantwortung bei der Anwendung der Menschenrechtskonventionen im Hinblick auf Sorge- und Umgangsrecht zufalle.

Deutschland ist auf diesem Gebiet das Schlußlicht. Muß das ewig so bleiben?