Das Politikbewusstsein lässt noch zu wünschen übrig

Urania statt Unterricht: Zum Weltkindertag ließen sich belustigte Schüler von einer bemühten Senatorin über Kinderrechte aufklären

Von Inga Griese

"Warum beschwert sich der Berliner angesichts einer Mutter mit Kinderwagen an einer U-Bahntreppe eher darüber, dass es weder Aufzug noch Rolltreppe gibt, anstatt mit anzupacken und zu helfen? Warum können Kellner in Italien trotz wuselnder Kinder servieren und die Restaurantgäste einen beschwingten Abend erleben -- während Eltern munterer Kinder hier in der Regel völliges Unverständnis entgegenschlägt?" Die Antwort auf ihre rhetorischen Fragen weiß Schulsenatorin Ingrid Stahmer nicht. Wie auch. Die Sympathien der Kinder und Jugendlichen im Kleist-Saal der Urania hat sie gleichwohl. "Die Frau ist nett", sagt ein kleines Mädchen.

Kinder wollen nicht immer perfekte Antworten, sie wollen Aufmerksamkeit. Und das empfinden sie offenbar hinter den Fragen der Senatorin. Weltkindertag in Berlin. Eine multikulturelle, bunte, muntere Truppe ist an diesem Mittag der Einladung des Landesverbandes der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) gefolgt. In zwei Veranstaltungen sollen die UN-Kinderrechtskonventionen und die Rechte von Kindern diskutiert werden. "Morgens die Betroffenen und abends im Roten Rathaus die Theoretiker", sagt Projektkoordinator Holger Wettingfeld.

Die "Betroffenen" sind Schüler zwischen acht und 16, eine Auswahl aus den Berliner Unesco-Partnerschulen, der deutsch-amerikanischen Kennedy-Schule sowie den Heiligensee- und Richard-Schröter-Grundschulen. Die wenigsten kommen mit großem Politikbewusstsein, mehr noch hatte wohl die Alternative Ausflug statt Unterricht gereizt, auch wenn der dann länger war als die Schulstunden. Die Älteren lümmeln sich hinten lässig in den Samtsitzen, sorgen für Stimmung, wenn ein Beitrag gefällt oder nicht - die Kleineren sitzen artig vorn. "Ich finde es blöd, wenn Kosovo-Flüchtlinge wieder zurückgehen", sagt ein kleines Mädchen. "Meine Freundin Susanna und ihr Bruder waren an einem Morgen einfach nicht mehr in der Schule."

Zur Begrüßung erklärt Frau Stahmer, worum es überhaupt geht: "Heute ist ein besonderer Tag. 1954 entschieden die Vereinten Nationen, ab dem Jahr 1956 einen Tag einzuführen, der allen Mädchen und Jungen gewidmet ist." Dieser Tag, der in 160 Staaten veranstaltet werde, solle vor allem die Erwachsenen in der ganzen Welt daran erinnern, dass Kinder besondere Wünsche und Bedürfnisse haben. Auch Kinder in Wohlstands-Gesellschaften haben Wünsche jenseits von Barbie-Welten und Computerspielen. Ob allerdings der junge Abgeordnete auf dem Podium mit seiner Forderung nach Wahlrecht ohne Altersbeschränkung ausspricht, was die Kinder erhoffen, scheint fragwürdig. Ein Teenager grinst: "Meine kleine Schwester wählt unseren Hund, is' doch klar."

Überhaupt ist manches an der Veranstaltung befremdend. Die drei Filmbeiträge des ZDF bedienen Klischees. Der verlogene Politiker im Mercedes mit Fahrer, der natürlich das Kind samt Rad und dranhängendem Freund mit Rollerblades auf dem Zebrastreifen anfährt. Die in dem Film so deutliche Aufforderung, Wahlen zu boykottieren, weil alle lügen, scheint dieser Tage nicht lehrenswert. Und ob Rechtsradikale wirklich darin bestehen, auf Rollschuhen durch Fußgängerzonen zu feuern, könnte auch diskutiert werden. Wird aber nicht. Immerhin kommen die Kinder ungehemmt zu Wort. Eine Umfrage des Kinderhilfswerks in Berlin unter 3673 Kindern hat ergeben, dass 52 Prozent nicht wussten, dass sie Rechte haben. Armes, aber zufriedenes Lichtenberg

Lichtenberg ist kein Stadtteil, der mit glücklicher Kindheit assoziiert wird. Stasi, Rechtsradikale, Plattenbau sind schon eher Schlagwörter. Der gestern vorgelegte Jugendbericht 1992 bis 1998 scheint die Klischees zu untermauern. Danach ziehen mehr unterstützungsbedürftige Familien nach Lichtenberg als von dort weg. "Ein Teil der Familien ist zunehmend von Verelendung betroffen. Die Verschlechtereung der wirtschaftlichen Lage (...) führt dazu, dass Partner sich selbst bei schweren innerfamiliären Konflikten aus wirtschaftlichen Gründen nicht trennen", heißt es in dem Bericht. "Staatliche Transfersleistungen (...) haben erheblichen Einfluß auf die Lebenslage von Kindern, Jugendlichen, Familien gewonnen." 16,4 Prozent der Alleinerziehenden mit Kindern lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Gruppe der Kinder, die in einer Familie mit weniger als 40 Prozent des Durchschnittseinkommens leben, beträgt 7,2 Prozent. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich zwischen 1992 und 97 fast verdoppelt. Der Bezirk hat mehr als 5000 Russland-Deutsche integriert. Demgegenüber steht die Frage nach der Befindlichkeit dort. 75 Prozent der Lichtenberger sind danach mit ihrer Wohnung zufrieden. "Das Heimatgefühl im Bezirk ist hoch, trotz aller Verschiebungen in den vergangenen Jahren", sagt Bürgermeister Wolfram Friedersdorff. "Ein Positiv-Bild wie andere Bezirke zu malen, bringt uns nicht weiter. Aber zum Dramatisieren besteht kein Anlass." Da müsse man nur einer der hervorragenden Diskussionen in den Gymnasien zuhören. Dort lernen 40 Prozent der Jugendlichen. IG
 

Dienstag, 21. September 1999
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