Ein Grund zum Feiern?

Zum Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention liegt in Deutschland noch vieles im Argen

Von Ingo Richter
Ist die Verabschiedung des "Übereinkommens über die Rechte des Kindes", die so genannte Kinderkonvention, am 20.11.1998 durch die UN ein Grund zum Feiern? Die Bundesrepublik ratifizierte das Übereinkommen erst im Jahre 1992, und die seinerzeitige Bundesregierung erklärte vollmundig, dass die Rechte des Kindes - so wie sie die Konvention formuliert - in der Bundesrepublik selbstverständlich längst gewährleistet seien.

Interessanterweise fügte der Bundestag der Ratifikation jedoch Vorbehalte hinzu, nach denen die Rechtsstellung der nichtehelichen Kinder in der Bundesrepublik durch die Konvention nicht berührt werde, dass ein Anspruch auf einen Anwalt nicht immer bestehe und dass Unterschiede zwischen Ausländern und Inländern durch den Gesetzgeber gemacht werden dürften, und diese Vorbehalte bestehen auch heute trotz aller Proteste fort.

Hat die Bundesrepublik die Rechte des Kindes längst verwirklicht? Schon als sie 1994 ihren ersten Bericht über die Umsetzung der Konvention abgeben musste, sah sich die Bundesregierung vor dem zuständigen UN-Ausschuss herber Kritik ausgesetzt. Die Konvention gewährleistet z. B. in Artikel 9 das Recht des Kindes, das von einem Elternteil getrennt ist, auf regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu diesem Elternteil. Dieses war seinerzeit in Deutschland für nichteheliche Kinder in keiner Weise gewährleistet, denn die Möglichkeit eines gemeinsamen Sorgerechts bestand nicht. Erst 1998 wurde sie durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz geschaffen.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: die Rechtsstellung der ausländischen Kinder. Nach Artikel 30 darf einem Kind, das einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehört, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden. Nun werden wir sagen, dass in der Bundesrepublik niemand türkischen muslimischen Kindern das Recht vorenthält, die türkische Kultur zu pflegen, sich als Muslim zu bekennen und türkisch zu sprechen. Aber können wir denn wirklich so sicher sein?

Die UN-Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten in Artikel 19 dazu, wirksame Maßnahmen zum Schutz und zur Durchsetzung der Minderheitenrechte zu ergreifen. Es steht zu vermuten, dass die Bundesrepublik sich erneut, wenn sie nun ihren zweiten Bericht über die Umsetzung der Konvention abgibt, die Frage gefallen lassen muss, ob sie denn alles Notwendige getan und wirksame Maßnahmen zum Schutz und zur Durchsetzung der Rechte ethnischer Minderheiten wirklich ergriffen hat. Die 10. Kinder- und Jugendberichtskommission hat daran Zweifel geäußert. Die Bundesrepublik gewährleistet nämlich faktisch das Recht der Kinder auf ethnische, religiöse und sprachliche Identität nicht. Doch angesichts des Rechtscharakters der UN-Konvention hat dies keine unmittelbaren rechtlichen Folgen. Völkerrechtliche Verträge wie die Konvention gewähren nämlich den Bürgern der Staaten, die diese Verträge unterzeichnet haben, keine Rechte. Sie richten sich ausschließlich an die Unterzeichnerstaaten, die sich verpflichten, internationale Verträge in nationales Recht umzusetzen. Die Bundesrepublik verpflichtet sich also, die Konvention in ihren Gesetzen und im Handeln der Verwaltung und Justiz umzusetzen.

Die Kinder können sich aber weder vor deutschen noch vor internationalen Gerichten auf die Konvention berufen: vor deutschen nicht, weil die UN-Kinderkonvention in der Bundesrepublik nicht unmittelbar anwendbar ist, und vor internationalen nicht, weil die Bürger der Vertragsstaaten keinerlei internationale Rechte aus der UN-Kinderkonvention erwerben. Ist also alles für die Katz? Sind die Kinderrechte bloße Deklarationen und leere Versprechungen? Nicht ganz: Die Bundesrepublik hat die rechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Konvention übernommen und sie kann sowohl innerstaatlich wie international auf die Verletzung ihrer Verpflichtung hingewiesen, wenn auch nicht gerichtlich zur Umsetzung gezwungen werden.

Im Bereich des Kindschaftsrechts hat die Bundesrepublik gehandelt, im Bereich der Rechte ausländischer Kinder wird sie handeln müssen. Doch wenn wir über die mangelhafte Umsetzung der Kinderkonvention in der Bundesrepublik reden, sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, dass die meisten Staaten in der Welt, die die UN-Kinderkonvention unterschrieben und ratifiziert haben, ganz elementare Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen missachten und mit Füßen treten: Ich erwähne nur das Verbot der Kinderarbeit, den Schutz vor Vertreibung und den Schutz vor Hunger, das Recht auf Liebe und auf ein bisschen persönliches Glück.

Wer hätte es noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass nach dem Ende des kalten Krieges und der Bedrohung der Menschheit durch Atombomben in Mitteleuropa nur wenige hundert Kilometer von Deutschland entfernt Kinder zu Tätern und Opfern in den neuen ethnischen Kriegen werden würden. Unsere - berechtigten - Bemühungen zur Durchsetzung der Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen müssen angesichts dieser und anderer menschenrechtlicher Katastrophen als "die kleine Münze" gelten.

Prof. Dr. Ingo Richter ist Leiter des Deutschen Jugendinstituts in München
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 18.11.1999 um 20.45 Uhr 
Erscheinungsdatum 19.11.1999