Heinz Hilgers vom Kinderschutzbund kämpft gegen die Prügelstrafe

"Unsere Kinder sind nicht unser Eigentum"

DAS GESPRÄCH FÜHRTE UNSER REDAKTIONSMITGLIED LUDWIG SANHÜTER
 

Die heute zu Ende gehende "Woche der Kinderrechte" ist für die Entwicklungsländer bitter nötig. Aber brauchen wir sie in Deutschland überhaupt?

Hilgers: Sogar dringend. Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern, auch wenn viele Erwachsene das noch immer so sehen und meinen, völlig über sie bestimmen zu können. Wir sagen: Kinder haben Menschenrechte wie du und ich, sie haben Rechte auch gegen die Erwachsenen.

Deutschland hat die UN-Konvention über Kinderrechte, deren 10-jähriges Bestehen in dieser Woche gefeiert wurde, 1992 unterschrieben. Hat es sie auch völlig umgesetzt?

Hilgers: Nein. Zum Beispiel bei der gewaltfreien Erziehung noch nicht. Mehr als eine Million Kinder werden zu Hause mit Stöcken, Gürteln oder anderen Gegenständen geschlagen. Dagegen kämpft der Kinderschutzbund seit 20 Jahren und wir sind froh, dass die Bundesregierung jetzt endlich plant, das körperliche Züchtigungsrecht der Eltern abzuschaffen und im Gesetz festzuschreiben, dass Kinder gewaltfrei zu erziehen sind. In der Schule und im Kindergarten dürfen Kinder nicht geschlagen werden, und sie verstehen nicht, dass dann ausgerechnet ihre eigenen Eltern sie prügeln dürfen.

Woran fehlt es noch bei der Umsetzung der Kinderrechte in diesem Land?

Hilgers: Nach wie vor am Familienlastenausgleich. Eine Million Kinder leben von Sozialhilfe. Die Erhöhung des Kindergeldes auf 270 Mark ab Januar reicht nicht aus, um den Vorgaben der Verfassung und des Bundesverfassungsgerichts zu genügen.

Wie sollte der Familienleistunausgleich nach Ihrer Meinung aussehen? Was fordert der Deutsche Kinderschutzbund?

Hilgers: Es gibt vieles, was wünschenswert, aber in der aktuellen Lage nicht finanzierbar ist, das wissen wir auch. Wir halten es aber für möglich, die Kinderfreibeträge für Gutverdienende abzuschaffen und das steuerliche Ehegattensplitting zu begrenzen, um ein Kindergeld von 400 bis 450 Mark zu finanzieren. Damit würde die Sozialhilfe für Kinder überflüssig und ein echter Familienausgleich geschaffen.

Das Geld ist die eine Seite. Die andere Seite ist das Umfeld, das wir selbst für unsere Kinder schaffen. Immer mehr von ihnen leiden unter Schlafstörungen, Kopfweh oder erhalten Beruhigungsmittel. Überfordern wir unsere Kinder?

Hilgers: Wir maßen uns Freiheiten an, rasen durch die Wohngebiete, und sagen dann, jetzt brauchenunsere Kinder Verkehrserziehung, damit sie mit den verrückten Autofahrer klar kommen. Wir nehmen uns die Freiheit, den größten Schund im Fernsehen oder auf Video zu sehen, und fordern Medienerziehung für die Kinder. Ich habe den Eindruck, die jetzige Erwachsenen-Generation braucht da eine gewisse Nacherziehung. Es kann ja nicht sein, dass wir uns alles herausnehmen und einen ungeheuren Anpassungsdruck auf die Kinder ausüben, dem sie manchmal nicht gewachsen sind und auf den einzelne Kinder mit Gewalt und Sucht reagieren.

Fehlt es manchmal einfach an der Bereitschaft, die Welt mit Kinderaugen zu sehen?

Hilgers: Der Kinderschutzbund fordert möglichst viel Beteiligung von Kindern an Entscheidungen. Sie wissen sehr vieles sehr gut auszudrücken, wenn man sich mit ihnen auf gleiche Augenhöhe begibt. Sie wissen auch, ihre Forderungen darzustellen, ohne dass sie überzogen wären: Nach einem sicheren Schulweg, nach Spielplätzen in Wohngebieten. Dazu muss es aber noch kommunale Kinderbeauftragte geben, die zum Beispiel bei Bebauungsplänen die Interessen der Kinder vertreten.

Der Amoklauf von Bad Reichenhall und der Lehrerinnen-Mord von Meißen haben eine neue Debatte über Jugendgewalt ausgelöst. Wo sehen Sie Abhilfe?

Hilgers: Diese beiden Ausbrüche sind doch ganz dramatische Einzelfälle. Ich sehe aber sehr wohl, dass wir Gefahr laufen, amerikanische Verhältnisse zu bekommen, wenn wir nicht gegensteuern. Aber Strafen schrecken kaum ab, weil jeder Täter hofft, nicht erwischt zu werden. Die beste Vorbeugung gegen Gewalt ist das richtige Vorbild der Eltern und aller Erwachsenen. Eben deswegen halte ich die gewaltfreie Erziehung auch in der Familie und die Erziehung zur Gewaltfreiheit für ganz entscheidend.

Kindergewalt ist mittlerweile an vielen Schulen, auf dem Schulweg, in Bussen Alltag. Ist unser Nachwuchs wirklich so verkommen?

Hilgers: Im Gegenteil. An Schulen, an denen die Kinder in Versammlungen Regeln für ihr Zusammenleben aufstellen und Streitschlichter die Regeln überwachen, ist der Kampf gegen Gewalt sehr erfolgreich. Die Kinder sind da sehr konsequent und können viele Probleme selbst lösen. Eine Schule mit einem Streitschlichter-Projekt ist allemal besser als eine Schule, in der Polizisten Kinder am Eingang nach Waffen durchsuchen.
 

Samstag, 20.11.1999
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