Kinderrechte als Utopie

Kinder haben Menschenrechte. Das gilt auch, wenn sie Schülerin oder Schüler sind. Der Vorschlag, daß Lehrer bei ihrer Anstellung einen sokratischen Eid ablegen - ähnlich dem hippokratischen Eid der Ärzte -, klingt allerdings noch wie eine Utopie.

Von Josef Bruckmoser
 

Eine Drittkläßlerin hatte ihre Lektion gut gelernt und auf die eigene Lebenssituation in der Schule umgemünzt. "Ich weiß jetzt, daß es den Artikel 31 gibt", sagte das Mädchen beim Unterrichtsthema "Menschenrechte für Kinder". Die Anwendung lag kurz vor Ende der Stunde nahe: "Da steht, ich habe ein Recht auf Freizeit. Das heißt doch, daß die Pause mein Recht ist. Oder?"

Menschenrechte für Kinder - auch in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler - sind als ausdrückliches Diskussionsthema noch sehr neu. Dasselbe gilt für jenen "sokratischen Eid", den der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig schon 1993 in seinem kritischen Bestseller "Die Schule neu denken" vorschlug: Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ausdrücklich verpflichten, die Eigenart und die Regungen jedes einzelnen Kindes zu achten, das Gesetz seiner Entwicklung anzunehmen, seine Anlagen herauszufordern und seine Schwächen zu schützen (siehe unten).

Die Kluft zwischen solchen Ansprüchen und Anforderungen pädagogischer Reformer und den Alltagsproblemen von Lehrerinnen und Lehrern scheint sehr groß. Andererseits gibt es aber das Beispiel von Schulen, die mit ihren Kindern und Jugendlichen den Menschenrechtskatalog durcharbeiten. Die Grundlage dafür ist eine Aktionsmappe von UNICEF Österreich (Hietzinger Hauptstraße 55, 1130 Wien). Die "UN-Konvention über die Rechte des Kindes" ist in diesem Behelf für drei schulische Altersgruppen aufbereitet: die Volksschüler, die 10- bis 14jährigen und die Oberstufe.

Schon für die Taferlklaßler heißt es in dem Katalog: "Kinder haben das Recht, alles zu erfahren, was sie interessiert. Sie haben das Recht zu sagen, was sie denken, und auch angehört zu werden." Die zwölf Rechtsbereiche für die 10- bis 14jährigen heben den Gedanken der Förderung hervor. Die Jugendlichen hätten "ein Recht darauf, daß sie bei ihrer weiteren Schulbildung und Berufausbildung beraten und gefördert werden".

Die wissenschaftliche Diskussion der Pädagogen geht über diese rechtlichen Mindeststandards deutlich hinaus. Rudolf Seitz, Begründer der Schule der Phantasie in München und stv. Präsident der Internationalen Pädagogischen Werktagung, meint zum Vorschlag, Erzieher sollten den "sokratischen Eid" ablegen: "Diese Einrichtung gibt es noch nicht, aber nichts hindert uns, für uns selbst diese Verpflichtung zu übernehmen, ähnlich wie die Ärzte sich dem hippokratischen Eid verpflichtet fühlen".

Kritiker wenden ein, daß der hippokratische Eid auch manchen Arzt nicht hindere, dagegen zu verstoßen. Was also sollten beschwörende Eidesformeln für Lehrerinnen und Lehrer bewirken? Aber pädagogische Reformideen haben den Schulalltag über kurz oder lang immer beeinflußt. Die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten von Schülern im Unterricht kann zur Bewußtseinsbildung beitragen. Daß der innere Zusammenhang von Rechten und Pflichten dabei nicht übersehen werden darf, ist selbstverständlich.
 

24.06.1999
Salzburger Nachrichten