Ach, kleine Zoe

Von Katja Rauch *

Du spielst mit deiner Rassel und hast keine Ahnung, was für eine Nachricht da aus dem Radio kommt. Sei froh, kleine Zoe, und spiel weiter, wirst irgendwann merken, wie viel du und deine zukünftigen Kameradinnen und Kameraden wert sind in diesem Deutschschweizer Land.

Kinder werden geliebt hier zu Lande. Wo sonst gibt es so viele Angebote für Eltern und Kind? MuKi-Turnen, Robinsonspielplätze, Reit-, Ballett- und Musikstunden . . . Die Kinder werden sehr geliebt bei uns, aber es soll sich bitte schön niemand einmischen in diese Liebe, und schon gar nicht der Staat. My home is my castle - und das Kind ist der wertvolle, wohl behütete Schatz darin. Wozu also eine Mutterschaftsversicherung? So richtig stolz sein kann erst, wer den eigenen Schatz ohne Hilfe hegt und pflegt. Erst dann kann man sich ganz und gar als Besitzerin oder Besitzer desselben fühlen.

Es ist die Kehrseite der schweizerischen Kinderliebe, das geliebte Kind mehr als privaten Besitz denn als eigenständige Persönlichkeit zu betrachten. Darin liegt gewiss nicht der einzige Grund für das Scheitern der Mutterschaftsversicherung. Aber er ist symptomatisch. Der zermürbende Kampf um die Uno-Kinderrechtskonvention zwei Jahre zuvor machte bereits deutlich, auf welche Art Kinder in der Schweiz geschätzt werden. Das zentrale Anliegen der Kinderrechte, dass nämlich auch die Meinung von Kindern ernst genommen und respektiert werden soll, wurde von rechtsbürgerlichen Kreisen erbittert bekämpft. Es hiess, die Rechte der Kinder unterliefen die "elterliche Gewalt". Nur schon dieses Wort.

Wenn Kinder so privat sind wie eine Halskette oder ein Velo, ist es kein Wunder, dass sich so viele von ihnen distanzieren, die selber keines (mehr) "besitzen". Sollen doch die dafür sorgen, die sie in die Welt stellen, uns gehts ja nichts an. Ach, liebe Zoe, dir wird auf dieser Seite des Röstigrabens nichts geschenkt. Du hingegen wirst bezahlen müssen. Ziemlich viel sogar, wenn es mit der hiesigen Geburtenziffer - nur noch 1,48 Kinder pro Frau - so weiter geht. Es ist schon schizophren: Die Angst ist gross, die AHV werde wegen der Überalterung der Gesellschaft bald zusammenbrechen, aber man rührt keinen Finger, um die Zahl der zahlenden Jungen zu erhöhen. Ja Zoe, viele von denen, die jetzt mit Nein gestimmt haben, werden dein Geld einmal gerne nehmen. Und sie werden sogar um die Beiträge der gross gewordenen Ausländerkinder froh sein, denen sie heute nicht das Schwarze unter dem Nagel gönnen.

Unsere Gesellschaft ist nicht auf Kinder eingestellt. Ein altes Lied ist der eklatante Mangel an Krippenplätzen; insbesondere die fehlenden Teilzeitplätze verunmöglichen mancher Familie eine flexible Betreuung. Geradezu kinderfeindlich präsentiert sich unsere Umgebung dort, wo es um den Lebens- und Spielraum von Kindern geht. Und nicht nur die Stadt hat ihre Idylle längst verloren: Laut einer Studie des Marie-Meierhofer-Instituts darf mittlerweile auch auf dem Land jedes dritte Kind im Vorschulalter nicht allein ins Freie, weil der Verkehr zu gefährlich ist. Und dort, wo Kinder noch dürften, stören sich Erwachsene an ihrem Lärm. Bereits notorisch sind die bösen Blicke, die sich lachende Kinder in Tram und Bus zuziehen. Und nun geraten auch noch die Spielplätze, diese oft verkehrsumbrausten und gar nicht sonderlich attraktiven Inseln im Dasein der Kinder, in die Kritik. Neuerdings werden dort die Dezibel gemessen, weil sich Anwohner vor Gericht über den Krach spielender Kinder beschweren. Kein Ort, nirgends für Kinder in diesem Land. An einer grossen Kinderkonferenz, die die Kindernachrichtenagentur kinag zusammen mit der Kinderlobby im letzten Herbst organisiert hat, wünschten sich Kinder ein Stück Wald! Ein eigenes Stück Wald, um herumzutollen, Waldhütten zu bauen und ungestört zu sein.

Nun, kleine Zoe, du selber hast es bisher - auch ohne Mutterschaftsversicherung - nicht schlecht gehabt. Die kleine Nachrichtenagentur, bei der deine Mutter arbeitet, hat ihr 16 Wochen Mutterschaftsurlaub bezahlt, obwohl sie dadurch hart an den finanziellen Abgrund gedrängt wurde. Und nun, wo die Mutter wieder arbeitet, sorgt dein Vater zur Hälfte für dich. Aber was ist mit all den Kindern, deren Eltern das nicht können?

Ausgerechnet am Tag nach dem Untergang der Mutterschaftsversicherung in den Deutschschweizer Urnen hat in Stockholm die Jahreskonferenz der europäischen Familienminister begonnen. Ihr Thema: "Auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft". Dort muss sich die Vertreterin der Schweiz wie das hässliche Entlein vorkommen: Unser Land hat nämlich bloss die Vorsteherin der Freiburger Sozialfürsorgedirektion geschickt, da es ein eidgenössisches Familienministerium bekanntlich nicht gibt.
 

19.06.1999
Tages-Anzeiger CH
* Katja Rauch ist Redaktorin bei der schweizerischen Kindernachrichtenagentur kinag