Kinderrechte unter Vorbehalt

Besonders jugendliche Flüchtlinge leiden unter der Diskrepanz zwischen der UN-Konvention und deutschen Gesetzen

Von Cathrin Kahlweit

Als der elfjährige Raoul Wüthrich in einem amerikanischen Gefängnis einsass, weil eine Nachbarin meinte, er habe seine Schwester sexuell belästigt, war in Deutschland viel von den mangelhaften Rechten der Kinder in den Vereinigten Staaten die Rede. Meist wurde in Berichten und Kommentaren tadelnd und verständnislos hinzugefügt, dass außer Somalia nur die USA die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen nach wie vor nicht ratifiziert haben.

Dabei hat gerade die Bundesrepublik allen Anlass, sich im eigenen Glashaus sehr vorsichtig zu gebärden. Bis heute wird die Konvention in Deutschland nur unter dem Vorbehalt angewandt, dass die Vorgaben der UN-Konvention durch Regelungen des Familien-, Ausländer- und Asylrechtes eingeschränkt werden können. Und das tat man in Bonn, tut man in Berlin denn auch fleißig. So fleißig, dass Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, eine eklatante Verletzung von Kinderrechten in Deutschland beklagt.

Kinderzimmer oder Kinderknast

Das betrifft vor allem ausländische Kinder, und unter diesen wiederum vor allem Flüchtlingskinder. Artikel 3 der Kinderkonvention, die das Kindeswohl an die erste Stelle setzt, widerspricht einer Reihe deutscher Regelungen: Asylsuchende Jugendliche zwischen 16 und 18 werden wie Erwachsene behandelt. Auch Jugendliche sitzen im Falle eines Scheiterns ihres Asylantrages schon mal in Abschiebehaft. Kinder von Asylbewerbern und Flüchtlingen mit Duldung erhalten eine medizinische Behandlung nur bei akuten Beschwerden. Nach 1997 eingereiste Flüchtlingskinder bekommen keine Arbeitserlaubnis und somit keine Gelegenheit zur Berufsausbildung.

Schlagzeilen macht derzeit aber vor allem die Behandlung unbegleiteter Flüchtlinge. Vor wenigen Tagen erst wurde am Frankfurter Flughafen ein Zimmer für Kinder eingerichtet, die ohne Eltern oder Verwandte nach Deutschland kommen. Meist, wenn auch nicht immer, waren diese bislang nach wenigen Tagen Aufenthalt in der Flüchtlingsunterkunft am Rhein-Main-Flughafen in umliegende Kinderheime gebracht worden, wo sie psychisch und physisch betreut wurden. Nun – mit der Einrichtung des so genannten „Kinderzimmers“ unter der Oberaufsicht des Bundesgrenzschutzes – ist offenbar geplant, auch unbegleitete Minderjährige über längere Zeit im Niemandsland am Flughafen unterzubringen und das Flughafenverfahren durchlaufen zu lassen, bevor sie – im Falle einer Ablehnung ihres Antrages – abgeschoben werden. Die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kinderknast“ – ein Vorwurf und ein Begriff, den Unicef zwar wegen seines polemischen Gehalts so nicht benutzen, inhaltlich aber vermutlich unterstützen würde. Immerhin findet das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, eine „angemessene Rücksichtnahme auf Minderjährige“ sei „unter den Bedingungen des Flughafenverfahrens unmöglich“.

Vor der vergangenen Bundestagswahl hatte die SPD noch laut getönt, man wolle die deutschen Vorbehalte gegen die Konvention im Falle eines Wahlsieges umgehend revidieren. Das Gegenteil ist der Fall. Innenminister Otto Schily, der seinem Vorgänger Manfred Kanther in Punkto Asylpolitik alle Ehre macht, will verhindern, dass ein liberalerer Umgang mit unbegleiteten Flüchtlingskindern im allgemeinen sowie asylsuchenden Jugendlichen im speziellen zu einem Anwachsen der Zahlen führt. Derzeit sind es nicht einmal 100, die jährlich auf Rhein-Main allein aus den Flugzeugen klettern.

Die Kinderkommission des Bundestages, die noch vor kurzem mit Blick auf den Jahrestag der UN-Kinderkonvention im direkten Gespräch mit dem Innenminister Widerstand gegen die Behandlung von Flüchtlingskindern angekündigt hatte, kann sich derzeit aus parteipolitischer Raison nicht auf eine gemeinsame und einstimmige Entschließung zu diesem Thema einigen. Diplomatisch formulierte der Vorsitzende der Kommission, Rolf Stöckl (SPD), am Donnerstag in Berlin, in der Kommission sei „umstritten, ob die Unterbringung am Flughafen kindgerecht“ sei.

Ohnehin hat der Beschluss des Bundestages von Ende September, die Kinderkonvention endlich vorbehaltlos anzuerkennen, keine erkennbare Wirkung auf Otto Schily gehabt: Dem Vernehmen nach ist ihm „egal“, was die Abgeordneten in dieser Sache beschlossen haben. Eine Rücknahme einzelner Vorbehalte gegen die Konvention soll nun in der Koalitionsrunde diskutiert werden. Hoffnung auf Kompromissbereitschaft des sozialdemokratischen Innenministers, der grundsätzlich über eine Neu-Regelung des Asylrechts nachdenkt, besteht nicht.

„Falsches Signal“

Auch seine Kollegin im Justizressort, Herta Däubler-Gmelin, fachlich für die familienrechtlichen Vorbehalte zuständig, denkt nicht an eine Rücknahme der deutschen Einschränkungen (im Fachjargon „Interpretationen“ genannt). Sogar jene Vorbehalte, in denen die Bundesregierung inhaltlich mit der Kinderkonvention konform geht, dürften daher vorerst beibehalten bleiben: Die UNO war schon vor zehn Jahren so modern gewesen, dass sie ein gemeinsames elterliches Sorgerecht nicht nur für eheliche, sondern auch für uneheliche Kinder vorsah. Das Kindschaftsrecht in Deutschland wurde 1998 so geändert, dass Eltern bei einer Trennung oder Scheidung die gemeinsame Sorge automatisch übernehmen – es sei denn, einer der Partner widerspricht. Einen entsprechenden Automatismus für uneheliche Kinder gibt es allerdings nicht.

Eben deswegen aber, so ist aus dem Justizministerium zu hören, will man den eigentlich anachronistischen familienpolitischen Vorbehalt gegen die Kinderkonvention der UN nicht aufheben: Dann nämlich, so unkt ein Mitarbeiter des Ministeriums, „stünden alle Organisationen von Vätern nicht-ehelicher Kinder hier auf der Matte und wollen ein automatisches Sorgerecht.“ Wie im Innen- so auch im Justizministerium dominiert die Angst, dass eine Rücknahme einzelner Vorbehalte zu „konkreten Forderungen einzelner Interessengruppen führen könnte“, so ein Sprecher, der sich lieber bedeckt hält. „Deshalb wäre eine Aufhebung einzelner Vorbehalte ein falsches Signal.“
 

20.11.1999
Süddeutsche Zeitung