junge Welt  Feuilleton

11.03.2000
Weltlexikon
Ein Wissensspeicher nicht nur für UN-Beamte, Diplomaten und Journalisten.
Von Franz-Karl Hitze

*** Helmut Volger (Hrsg.): Lexikon der Vereinten Nationen. Mit einem Vorwort von Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen. Oldenbourg- Wissenschaftsverlag GmbH, München 2000, 775 Seiten, DM 98,00 DM

Rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse ist das »Lexikon der Vereinten Nationen« erschienen. Es wird durch Kofi Annan, den Generalsekretär der UN, mit einem Vorwort geadelt. Helmut Volger, Herausgeber dieses gewichtigen Werkes, schreibt einleitend: »Der Begriff >Lexikon< wird in diesem Buch nicht als Nachschlagewerk verstanden, sondern - in der Tradition der Begründer der Encyclopédie Française - als Sammlung kritischer Bestandsaufnahmen verbunden mit Reformvorschlägen.« Damit ist das Buch, das in den Reihen politischer Bücher einen dominierenden Platz finden wird, durchaus zutreffend charakterisiert. Kenner der Buchszene sehen es bald auf der Bestsellerliste.

Von Abrüstung bis Zoll- und Handelsabkommen ist so ziemlich alles zu finden, was die Mitgliedstaaten der UN politisch, ökonomisch, ökologisch und militärisch bewegt. Helmut Volger veröffentlicht selbst als Autor sechzehn Beiträge. Insgesamt vereinigt er 85 Mitautoren um sein Projekt, die 168 Themen analysieren - wissenschaftlich, politisch exakt und nüchtern. Zu Volgers Konzept für das Lexikon gehört, nicht nur Wissenschaftler publizieren zu lassen. Er suchte und fand sowohl aktive als auch ehemalige UN-Mitarbeiter, Diplomaten, Politiker und Journalisten aus UN-Mitgliedstaaten, die sich in den meisten Fällen lange mit den Vereinten Nationen befassen oder befaßten.

Volger schrieb selbst eine umfassende Untersuchung über die »Entwicklungsgeschichte der Vereinten Nationen«. Vor allem für junge Leser werden dort die ersten Umrisse der Organisation sichtbar, bevor am 24. Oktober 1945 in San Francisco die Geburtsstunde der UN läutete. Volger erinnert sowohl an den griechischen Bürgerkrieg (1946), an die Berlin- Blockade (1948), den Koreakrieg (1950) und den Einsatz von UN-Friedenstruppen im Kongo (1960 bis 1963) als auch an die Raketenkrise in Kuba 1962, die eine »akute Gefahr eines nuklearen Krieges zwischen den USA und der UdSSR ... heraufbeschwor«.

Wer Informationen über die Definition und Aufgabenstellung der »Friedenstruppen« der Vereinten Nationen, ihre Bereitstellung, Strukturen und Missionen sucht, findet sie im gleichlautenden Beitrag. Der Autor ist Manfred Eisele, ehemals Assistant Secretary-General for Planning and Support Department of Peacekeeping Operations, United Nations. Der inzwischen pensioniert Brigadegeneral der Bundeswehr lehrt heute an verschiedenen Universitäten, u. a. in Rom und Hamburg. Interessant sind seine Kommentare sowohl zur IPTF - Internationale Police Task Force als auch zur SFOR-Truppe in Bosnien/Herzegowina. Wichtig ist seine Feststellung, daß es zum Einsatz von UN-Friedenstruppen »vor allem eines Mandats unter Kapitel VII der Charta der UN« bedarf. Für monetär Interessierte: Alle Staaten, die Truppen für die UN zur Verfügung stellen, erhalten pro Mann und Monat für ihre Blauhelmsoldaten zirka 1 000 US-Dollar aus der Kasse der Vereinten Nationen. Manche Länder zahlen ihren Soldaten nur rund 20 Dollar aus.

Für den Herausgeber war es von vornherein selbstverständlich, wie er im Gespräch mit jW erklärte, auch Diplomaten und Wissenschaftler aus der DDR als Autoren einzuladen. Allen Kritikern zum Trotz. So konnte z. B. Dr. Bernhard Neugebauer in einem Beitrag über die UN-Politik der DDR darauf verweisen, daß mit der gleichzeitigen Mitgliedschaft der DDR und der BRD (18. September 1973) beide Staaten international und völkerrechtlich »gleichgestellt« wurden. Der frühere stellvertretende Außenminister der DDR bestätigt sowohl »Defizite in der Menschenrechtspraxis der DDR« als auch die Tatsache, daß »trotz ihrer Gegnerschaft ... beide deutsche Staaten auf Gedeih und Verderb miteinander verkettet« waren.

Dr. Hans Arnold beschreibt nüchtern und ehrlich unter dem Titel »Deutschland, UN-Politik«, daß es das politische Ziel der BRD in der UNO war, »... die Aufnahme der DDR in UN- Organisationen zu verhindern«. Der pensionierte Botschafter der BRD in UN-Institutionen kommt zu dem Schluß: »Insgesamt hatte der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik deren Bewegungsspielraum innerhalb der UN eingeschränkt«. Bemerkenswert ist die Feststellung Arnolds - er ist heute als Dozent an der Hochschule für Politik, München, tätig - daß die 19 NATO-Staaten »außerhalb der UNO und insbesondere ohne Mandat des UN- Sicherheitsrates« im Jahre 1999 im Kosovo/BR Jugoslawien Krieg führten. »Sie verletzten damit«, schreibt Arnold, »als UN-Mitglieder das mit der UN-Charta gesetzte Völkerrecht; Deutschland verletzte zudem sein Verfassungsrecht«.

Übrigens: Die Charta der Vereinten Nationen ist im Anhang in der amtlichen Fassung der BRD zu finden. Auch eine Dreisprachenliste der wichtigsten UN-Institutionen (Englisch, Französisch, Deutsch) ist angehängt. Eine Adressenliste der Depotbibliotheken der UN in der BRD, Österreich und der Schweiz sowie ein Sachregister und das Autorenverzeichnis vervollständigen das Lexikon.

Der Leser findet sowohl die (alphabetisch geordnete) Liste der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen als auch Informationsmöglichkeiten über die UN. Dr. Günther Altenburg, Ministerialdirektor und Leiter der UN-Abteilung im Berliner Außenamt, stellt u.a. den »UN-Platz Bonn« vor, der 1996 in der »Villa Carstanjen« von Boutros Boutros-Ghali eröffnet wurde.

Aus Altenburgs Feder stammt auch die Vorstellung der »Genfer Gruppe«. In Genf finden traditionell in jedem Frühjahr Treffen zu Fragen der UN-Sonderorganisationen, wie auch der UN-Fonds und -Programme statt. Es gibt über 500 UN- Sonderorganisationen. Wer also Informationen über UNESCO, ECOSOC, UNCITRAL, UNCIVPOL, UNDP, UNEP, UNHCR, UNICEF und, und, und ... sucht, wird reichlich im Lexikon versorgt. Er kann auch das Informationsangebot der UN im Internet auf der Homepage http:// www.un.org anklicken.

Kofi Annan wertet das Lexikon »auch als nützlichen Ratgeber für deutsche Redner aller Altersgruppen ... die dazu beitragen möchten, im 21. Jahrhundert eine bessere und gerechtere Welt für alle Menschen zu schaffen«. Das »Lexikon der Vereinten Nationen« dürfte bald zum Standardwerk für alle politisch Interessierten werden, sowohl für Studenten der politischen Wissenschaften, Völkerrechtler, Diplomaten und Journalisten als auch für Universitäten und Hochschulen, Redaktionen und Lektorate. Eben ein Wissensspeicher über die UN, der seinesgleichen sucht.

(Aus unserer 16seitigen Wochenend-Beilage)

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