Kinderrechte als global-völkerrechtlich bindende Grundlage aller Menschenrechte

Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Universal Declaration of Human Rights) vom 10. Dezember 1948 und dem darauf beruhenden Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights) vom 16. Dezember 1966 haben die Vereinten Nationen am 20. November 1989 das spezielle Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child) verabschiedet, mit welchem die Menschenrechte der besonders schutzbedürftigen Minderjährigen unter 18 Jahren „erstmals in der Geschichte des Völkerrechts ... umfassend in einem internationalen Vertragswerk mit weltweitem Geltungsanspruch“1 kodifiziert worden sind.

Die herausragende Bedeutung dieser Konvention im Rahmen des aktuellen globalen Völkervertragsrechts wird allein schon aus dem statistischen Faktum ersichtlich, daß sie heute mit Ausnahme der USA und Somalias von allen Staaten der Welt ratifiziert worden ist. Dies stellt einen in der Geschichte völkerrechtlich paktierter Menschenrechtsnormen einzigartigen Rekord dar, welcher nach den Worten von UN-Generalsekretär Kofi Annan diese Regelungsmaterie nicht mehr als „Akt der Nächstenliebe“ ausweist, sondern als „eine verbindliche Schuld“ jedes einzelnen Vertragsstaates dieses Übereinkommens. Demzufolge liegt es nunmehr „an den Erwachsenen, die Rechte der Kinder zu verteidigen und sich dabei der schrecklichen Kosten bewußt zu sein, welche die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu zahlen haben wird, sollte sie deren Einhaltung unterlassen“.2

Um diesen globalen Schutzmechanismus effizienter gestalten zu können, haben die Vereinten Nationen am 4. Oktober 2002 einen „General Comment“ verabschiedet, welcher der „Rolle unabhängiger nationaler Menschenrechtseinrichtungen zum Schutze und zur Förderung der Rechte des Kindes“ gewidmet ist und laut authentischer Interpretation des Kinderrechtekomitees der UNO in den Rahmen der Verpflichtungen gemäß Art. 4 der Kinderrechtekonvention (KRK) fällt. Dieser von den Vereinten Nationen jüngst urgierten Einrichtung wird namentlich von Unions-europäischer Seite besonderes Augenmerk zugewendet werden müssen, und dies nicht nur im Hinblick auf die in diesem Dokument ausdrücklich geforderte regionale und internationale Zusammenarbeit dieser Institutionen, sondern vor allem auch unter dem Blickwinkel des in Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrags verankerten Grundsatzes der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten als gemeinsamer Grundwerte der Union. Leider scheinen solche Einrichtungen zur Zeit auch in Deutschland und Frankreich noch nicht zu existieren, wie eine diesbezügliche konkrete Anfrage an die am 12. Dezember 2003 in der Französischen Botschaft in Berlin anwesenden Experten beider Staaten ergeben hat.

Daß es mit den grundlegenden Menschenrechten der Kinder auch in der Rechtswirklichkeit der vielfach zu den reichsten Regionen der Erde zählenden derzeit 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keineswegs überall zum Besten bestellt ist, hat eine vor drei Jahren veröffentlichte detaillierte Faktenanalyse anhand jüngster UNO-Dokumente erwiesen.3 Demzufolge werden auch in Europa immer mehr Kinder unverschuldet vor allem zu Opfern ihres elementaren Menschenrechts, „regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen“ (Art. 9 Abs. 3 KRK).

Neuerdings häufen sich sogar entgegen jüngster Straßburger Richtungsentscheidungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland Fälle behördlicher Radikaleingriffe in diesen familiären Kernbereich mit Kontaktabbruch gegenüber beiden Eltern,4 was für die davon betroffenen Kinder in der Regel eine wahre Kettenreaktion von Grundrechteverletzungen unter dem Blickwinkel der UNO-Konvention auslöst. Dies betrifft im einzelnen nicht nur das Recht des Kindes auf angemessene Leitung und Führung durch beide Eltern (Art. 5, 18 KRK), sein Recht auf Betreuung durch beide Eltern (Art. 7 KRK), sein Recht auf Wahrung seiner Identität und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen (Art. 8 KRK), sein Recht auf Schutz vor willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Familienleben (Art. 16 KRK), sein Recht auf Schutz auch vor „geistiger Gewaltanwendung“ (Art. 19 KRK) oder sein Recht auf eine Erziehung im Geiste der Achtung vor den Menschenrechten und namentlich „vor seinen Eltern“ (Art. 29 KRK)5, sondern ganz allgemein auch das im Art. 3 KRK verankerte Kardinalprinzip der „besten Gewährleistung der Interessen des Kindes“ in längerfristiger Entwicklungsperspektive. Es erscheint in diesem Zusammenhang geradezu symptomatisch für das namentlich auf diesem Gebiete mangelnde menschenrechtliche Problembewußtsein im Herzen Europas, wenn das soeben zitierte, in der französischen Textfassung mit „l’intérêt supérieur de l’enfant“ umschriebene Grundprinzip der Kinderrechtekonvention in amtlichen deutschen Textfassungen auf den historisch-traditionellen und leider vielfach bereits längst zur bloßen Worthülse verkümmerten Begriff „Kindeswohl“ reduziert wurde.6

Zu dieser den Wesenskern global-kinderrechtlicher Schutznormen verkennenden Fehlinterpretation treten oft noch schwerwiegende prozedurale Defizite hinzu, welche einen effektiven Schutz von Kindesrechten ad absurdum zu führen geeignet sind. Dies betrifft namentlich die gewissenhafte Wahrnehmung des Fürsorgeprinzips mit der Verpflichtung zum amtswegigen Vorgehen in ernsteren Fällen, die möglichst rechtzeitig anzustrebende Vorbeugung oder Lösung von Konflikten um das Kind mittels Mediation und die vor allem im frühen Kindesalter meist schicksalshafte Frage der Verfahrensdauer und der raschen Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen. In diesem Zusammenhang ist konkret auf das bereits am 25. 1. 1996 in Straßburg abgeschlossene Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten7 hinzuweisen und dessen Ratifizierung und Implementierung durch alle gegenwärtigen und künftigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit Nachdruck zu fordern.

Die fundamentale Bedeutung, welche die Organisation der Vereinten Nationen der Erziehung des Menschen generell beimißt, wurde neuerdings durch die Tatsache unterstrichen, daß der am 17. April 2001 beschlossene „General Comment No. 1“ der UNO zur Kinderrechtekonvention die authentische Auslegung des Art. 29 dieses Instruments zum Gegenstand hat und sonach den offiziellen Titel „The Aims of Education“ trägt.8 Hier wird in 28 Positionsnummern zusammengefaßt u.a. in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht, daß die Erziehung primär “innerhalb der Familie” stattzufinden hat (P. 13 u. 15) und gemäß den in Art. 29 KRK verankerten Werten dem Kind „das individuelle und subjektive Recht auf eine spezifische Qualität der Erziehung“ gibt (P. 9). Dazu gehört namentlich auch „die Wichtigkeit der Achtung gegenüber den Eltern“ (P. 7) und „die Erfahrung der Menschenrechte durch die eigene Wahrnehmung ihrer tatsächlichen Umsetzung im täglichen Leben, sei es zuhause, in der Schule oder innerhalb der Gesellschaft“ (P. 15). Wie nicht zuletzt auch wiederholte Umfragen unter Studierenden rechtswissenschaftlicher Fakultäten in Europa ergeben haben, ist die nunmehr in das letzte Jahr eingetretene UN-Dekade der Menschenrechtserziehung auf unserem Kontinent anscheinend weitgehend unbeachtet geblieben.9 Zweck dieser um die Jahrtausendwende plazierten globalen Initiative ist es, mittels Unterricht, Schulung und Öffentlichkeitsarbeit jenen lebenslangen Lernprozeß zu initiieren, welcher für den erfolgreichen Aufbau einer „allgemeinen Menschenrechtskultur“ unerläßlich ist. Hier sollte Europa, welches schon vor über einem halben Jahrhundert mit der in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehenen Einrichtung eines vielbeachteten gerichtlichen Verfahrens in Straßburg einen Meilenstein für die Förderung zumindest einiger grundlegender Menschenrechte in der Staatengemeinschaft des Europarats gesetzt hat, im Zeitalter der Globalisierung erneut die „einmalige Chance (wahrnehmen), der Weltgemeinschaft als geistige Führung zu dienen“.10

2004