BVerfG Beschluß vom 6.5.1997, I - BvR 408/90
Sigrid Schiebweg ist ledig und kriegt ein Kind, ihre Susi. Kurz nach der Geburt im Jahre 1959 gibt sie es in ein Kinderheim. Später wird Susi von Pflegeeltern aufgezogen.
Als sie 30 Jahre alt ist, möchte sie aus persönlichen Gründen und im Hinblick auf mögliche Erbansprüche wissen, wer ihr Vater ist. Die Mutter sagt es ihr nicht und läßt durchblicken, sie habe während der Empfängniszeit mit mehreren Männern verkehrt. Diese seien inzwischen verheiratet und lebten in intakten Familien. Damit findet sich die Tochter nicht ab. Sie macht ihren Anspruch auf Auskunft vor dem Amts- und darauf vor dem Landgericht geltend. Die Richter gehen davon aus, die Mutter habe durch die Weggabe der Tochter die persönliche Mutter-Kind-Beziehung beendet. Die Tochter schulde ihrer Mutter deshalb keine Rücksicht mehr. Und so räumen sie dem Interesse der Tochter an der Kenntnis des Vaters Vorrang ein vor dem Schutz der Intimsphäre der Mutter.
Das Landgericht verurteilt deshalb Sigrid Schiebweg in letzter Instanz dazu, ihrer Tochter vollständig darüber Auskunft zu erteilen, wer als ihr Vater in Betracht kommen kann. Sigrid Schiebweg fühlt sich durch ihre Verurteilung zur Auskunft in ihrem vom Grundgesetz geschützten persönlichen Bereich verletzt. Sie legt Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein.
Muß Sigrid Schiebweg ihrer Tochter darüber Auskunft geben, welche Männer als ihr Vater in Betracht kommen, um die Vaterschaft feststellen lassen zu können?
Die acht Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts bemerken, daß das Bürgerliche Gesetzbuch lediglich allgemein bestimmt: 'Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig'. Einen ausdrücklichen Anspruch des nichtehelichen Kindes gegenüber seiner Mutter auf Benennung des Vaters sieht das Gesetz nicht vor. Jedoch umfaßt das vom Grundgesetz in Artikel 2 geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Dieses Recht schützt nichteheliche Kinder davor, daß ihnen die Behörden oder auch die Mutter Informationen bezüglich ihrer Herkunft vorenthalten.
Bei der Frage, ob die Tochter ein Auskunftsrecht gegenüber der Mutter hat, ist jedoch abzuwägen welches Interesse höher zu bewerten ist: Das Persönlichkeitsrecht der Mutter und der Schutz ihrer Intimsphäre auf der einen Seite oder der aus dem Persönlichkeitsrecht der Tochter folgende Auskunftsanspruch.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts weisen darauf hin, daß die Interessen des Kindes nicht generell und ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls höher zu bewerten sind als das Persönlichkeitsrecht der Mutter. Auch ist bei der Entscheidung mitzuberücksichtigen, daß von der Auskunft mehrere Männer mitbetroffen wären, von denen nur einer der Vater sein kann.
Dies hätten aber die Richter des Amts- wie des Landgerichts nicht beachtet. Sie waren von einem Vorrang des Auskunftsrechts des unehelichen Kindes gegenüber dem Schutz der Intimsphäre der Mutter ausgegangen. Und so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Landgerichts auf.
Das Gericht entscheidet zugunsten der Beschwerdeführerin Sigrid Schiebweg, die also ihrer Tochter die erbetene Auskunft nicht erteilen muß.
Da ist also wieder die wichtigste Auslegungsmethode für Gesetze: Die Abwägung der Rechtsgüter, die im konkreten Fall miteinander konkurrieren. Das Verfassungsgericht dazu: Wo es um die Berücksichtigung widerstreitender Grundrechte geht, gibt es Spielräume der Gestaltung - für den Gesetzgeber und für die Auslegung. Zwar ist richtig, daß nichteheliche Kinder nicht schlechter gestellt werden dürfen als eheliche. Es können sich aber rechtfertigende Gründe für eine Ungleichbehandlung ergeben; für den Status von in einer Ehe geborenen Kindern kommt es nicht darauf an, wer der leibliche Vater ist. Das Landgericht hat seinen Gestaltungsspielraum verkannt, denn es hat den Auskunftsanspruch nahezu verabsolutiert und gar nicht gesehen, daß das Persönlichkeitsrecht der Mutter genauso in die Abwägung einfließen darf und muß.
Das Gericht muß damit rechnen, daß
eine landesweite Boulevardzeitung nach diesem Urteil in die Menge der Kioskpassanten
schreit: "Wer ist mein Vater?"
Bayerischer Rundfunk